Dass nicht alles Silber ist, was glänzt, mussten Japans Über-Hundertjährige vor einigen Jahren feststellen. Alljährlich im September zelebriert die Nation den Keiro no Hi, den Tag der Ehrung der Alten. Zu diesem Anlass bekommt jeder Mensch, der älter ist als 100 Jahre, im Namen des Premiers einen Silberbecher überreicht. Früher, als in dem Land nur wenige hundert Menschen in einem solchen Alter lebten, stellte diese Geste des Respekts niemand infrage. Doch mittlerweile leben in Japan mehr als 70.000 Über-Hundertjährige. Und der Kelch wurde zu teuer. Erst wurde er verkleinert, schließlich durch eine günstigere, lediglich versilberte Version ersetzt.
Der Silberbecher, der keiner mehr ist, ist nicht nur ein Symbol dafür, wie eine Nation vergreist. Sondern auch dafür, wie die wirtschaftliche Zukunft eines ganzen Landes auf dem Spiel steht. Denn die Japaner werden nicht nur immer älter, es werden zugleich immer weniger Kinder geboren. 2018 gab es einen neuen Tiefstand: 921.000 Babys wurden im letzten Jahr geboren. Im selben Zeitraum starben dagegen 1,37 Millionen Menschen. Allein 2018 hat das Land somit 448.000 Einwohner verloren. Das entspricht ungefähr einer Stadt in der Größenordnung von Duisburg.
Ein Land vergreist
Die Bevölkerungsentwicklung in Japan ist dramatisch: Seit neun Jahren in Folge schrumpft die Zahl der Einwohner in Japan. Fast ein Viertel ist älter als 65 Jahre, 2030 werden es mehr als 30 Prozent sein. Zugleich geht die Geburtenrate immer weiter zurück. Aktuell bekommt eine japanische Frau in ihrem Leben 1,43 Kinder. Um die Bevölkerung stabil zu halten, wäre ein Schnitt von 2,07 notwendig.
Die japanische Regierung versucht mit diversen Maßnahmen, etwa höheren Kindergeldzahlungen, die Geburtenraten anzuheben. Das angepeilte Ziel bis zum Jahr 2026 liegt bei einer Rate von 1,8 Kindern. Davon ist das Land bislang meilenweit entfernt. Für die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist das eine gigantische wirtschaftliche Herausforderung.
Es liegt nicht an zu wenig Sex
Doch warum bekommen die Japaner so wenige Kinder? Dafür gibt es mehrere Gründe - zu wenig Sex, wie häufig behauptet, ist jedoch keiner davon. "Japaner haben genauso viel Sex wie andere Nationen auch", sagte der Sozialphilosoph und frühere Hochschulprofessor Kenichi Mishima in einem Interview mit der "Welt". Zwar gebe es einige Ausnahmen, die sich statt echter Frauen mit Hentais und lebensgroßen Sexpuppen vergnügen, diese seien aber eine Minderheit.
Entscheidender sind die äußeren Umstände, etwa die Arbeitskultur. Überstunden gehören in Japan zum guten Ton, zwölf Stunden am Tag im Büro zu verbringen ist eher die Regel als die Ausnahme. Das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales veröffentlichte für das Jahr 2015 96 Tote durch Überarbeitung. Dazu kommt eine ähnlich große Anzahl an Suizidversuchen, die mit einer zu hohen Arbeitsbelastung in Zusammenhang gebracht werden. Wer bis zum Umfallen arbeitet, der denkt nicht daran, eine eigene Familie zu gründen.
Die Rolle der Frauen
Zugleich steigen Mieten immer weiter, weshalb die Zahl der jungen Leute, die sich keine eigene Wohnung leisten können oder wollen, stetig zunimmt. Viele junge Menschen lassen sich deshalb Zeit ihres Lebens von den Eltern durchfüttern und gründen erst spät eigene Familien. Das Phänomen ist so verbreitet, dass es schon einen eigenen Namen hat: "Single-Parasiten".
Auch die Rollenverteilung in der Gesellschaft verändert sich. Früher musste der Mann lange arbeiten, um die Familie zu ernähren. Frauen kümmerten sich tagsüber um den Haushalt und die Kinder. Mittlerweile müssen beide Geschlechter arbeiten, um die hohen Lebenshaltungskosten zu decken. Bekommt die Frau ein Kind, bleiben 70 Prozent der Mütter anschließend zu Hause. Nicht nur aus Tradition, sondern weil es anders kaum machbar ist: Staatlich finanzierte Kindertagesstätten sind Mangelware, die Wartelisten steigen seit drei Jahren in Folge.
Die Pflege wird das Zukunfts-Problem
Eine Untersuchung von "Axios" zeigt: Nicht nur Japan leidet unter der Kinderlosigkeit. Vielmehr ist es ein globaler Trend. In den meisten Ländern sinkt die Bevölkerung, und zwar in einem alarmierenden Ausmaß. 2050 werden 48 Länder und Regionen - ohne Immigration - weniger Menschen beherbergen, einige Populationen werde um bis zu 15 Prozent abnehmen - unter anderem Japan, der Balkan und die baltischen Staaten. Auch die Bevölkerungszahl der USA nimmt ab.
Eines der größten Probleme der Zukunft wird die Pflege. Der Untersuchung zufolge arbeiten derzeit in Nordamerika vier Menschen - und damit Steuerzahler - je Person im Ruhestand. In sieben europäischen Ländern liegt der Schnitt schon bei drei zu eins, in Japan sogar bei knapp zwei zu eins. 2050 werden sieben asiatische, 24 europäische und vier lateinamerikanische Länder unter die Rate von zwei Arbeitern pro Rentner fallen. Japan mag intensiv an Pflegerobotern forschen. Doch das Wirtschaftswachstum werden sie nicht ankurbeln. Womöglich reicht es in Zukunft nicht einmal mehr für den versilberten Becher.
Quellen:"The Guardian", "Japan Digest", "Welt", "BBC", "Axios"
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