Was bleibt, wenn ein Mensch geht? Erinnerungen. Aber auch Dokumente, Zeugnisse des Seins auf dieser Erde. Die Nachkommen kümmern sich um den Nachlass, manches wird verkauft, entsorgt und einiges wird zum Glück aufbewahrt. Verbunden mit der Hoffnung, dass auch die kommende Generation es in Ehren hält und das Vermächtnis des Verstorbenen dauerhaft einen Sinn behält.
So ist es in unserer Familie mit einem unscheinbaren Heftchen, ummantelt von einem dünnen Pappdeckel. Darin viele Seiten engzeilig mit Bleistift in altdeutscher Schrift verfasst. Da den Text heute kaum noch jemand lesen kann, hat ihn mein Vater seinerzeit für uns Kinder und seine Enkel auf der Triumph Reise-Schreibmaschine abgetippt und vervielfältigen lassen. "Zwischen Morgen und Mitternacht - Zeitbetrachtungen in amerikanischer Kriegsgefangenschaft" hat mein Großvater Fritz seine Aufzeichnungen überschrieben, die er von März bis September 1945 verfasst hat.
Wenn in diesen Tagen SchauspielerInnen mit einer kontrovers diskutierten Aktion wie #allesdichtmachen die Regierenden und ihre Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie kritisieren und auch die Medien ihr Fett wegbekommen, weil sie angeblich undifferenziert berichten, dann haben die Protagonisten offenbar vergessen, dass es eine dunkle Zeit in unserem Land gab, in der es in der Tat eine andere Form von Meinungsfreiheit und Berichterstattung gab.
Den Sohn nennt er Friedemann
Mein Großvater war als überzeugter Sozialdemokrat von Anfang an gegen die Gewaltherrschaft der Nazis und den 2. Weltkrieg gewesen. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, wurde Fritz Behrendt als junger Rektor einer renommierten Schule im Bundesland Brandenburg seines Postens enthoben und in die tiefste Provinz strafversetzt. Er war den Oberen als "zu kritischer Geist" negativ aufgefallen. Bei Kriegsausbruch im September 1939 musste Großvater voller Widerwillen die Uniform anziehen, denn er hätte viel lieber weiter Kinder unterrichtet. "Kriegsdienstverweigerung" gab es leider damals noch nicht, die Alternative hieß: Konzentrationslager.
Als Zeichen des Protests nannte er seinen kurz vor der Einberufung zweitgeborenen Sohn "Friedemann". Er wurde unser Lieblingsonkel. Mein Vater traf vor seinem Tod auf einer Reise in die Vergangenheit ehemalige Schüler seines Vaters, die ihm berichteten, dass mein Großvater nur haarscharf an einer Verhaftung durch die Gestapo vorbeigekommen sei. Zwei seiner Lieblingskollegen sind im KZ umgekommen.
Mein Großvater schrieb seine Gedanken und Empfindungen zum Thema Freiheit im Alter von 45 Jahren nieder. Er war glücklich verheiratet und hatte vier Kinder. Zwischen damals und heute liegen 75 Jahre, in denen Deutschland in Frieden und Freiheit lebt, ein unschätzbar wertvolles Gut, trotz aller Einschränkungen, die es aktuell temporär im Zusammenhang mit der weltweiten Pandemie gibt. Die ersten Zeilen, die mein Großvater in Gefangenschaft aufschrieb, klingen wie ein ewiges Mantra für jede Bürgerin und jeden Bürger dieses Landes: "Es lohnt sich, unter Einsatz aller Kräfte für den Frieden zu kämpfen; denn jeder Krieg ist durch seine sinnlose Vernichtung ein Rückfall in einen kulturlosen Zustand."
Hoffnung und Zuversicht
Als ich mir jetzt mal wieder die Zeilen meines Großvaters durchlas, fand ich auch ganz viel Hoffnung und Zuversicht in seinen Worten. Zum Beispiel, als er eine Szene beschreibt, in der ein junger Leutnant in der Gefangenschaft ferngetraut wird. Die inhaftierten Kameraden sangen hinter der Mauer - umgeben von schwer bewaffneten Bewachern - "Ach, du klar blauer Himmel…". Mein Großvater hielt eine Rede und bat die anderen, sich an den Händen zu halten und gemeinsam gute Wünsche für das junge Paar wie ein Gebet zum Himmel aufsteigen zu lassen. Bewegend. In einer anderen Passage adelt er die kleinen Dinge, die wir im Lärm des Alltags leider viel zu oft übersehen. Mein Großvater setzt ihnen in seinem Text ein Denkmal. "Wer eingesperrt ist und nichts darf, dem bleiben Gedanken, Träume und das normale, was wir ungestraft betrachten dürfen. So wie die Gänseblümchen und die Schmetterlinge mit ihrem unbekümmerten Tanzen und Gaukeln", malt er mit Worten.

An einer anderen Stelle beschreibt er seine geliebte Pfeife. Mein Großvater und seine Pfeife, für uns Enkel ein Bild, das es nur in dieser Kombi gab. Er beschreibt die Bedeutung seiner "Piepe" voller Liebe: "In ihre blauen Wölkchen hinein flochten sich Gedanken und Pläne; denn um mich herum war durch sie Frieden und Freude und schützende Häuslichkeit." Geborgenheit wurde nach Kriegsende ein Schlüsselbegriff für meinen Großvater. Wann immer es ging, wollte er die gesamte Familie um sich versammeln. Gemeinsam essen, lachen, musizieren in der "Bärenburg", so wie er sein Zuhause gerne nannte.
Dass meine Eltern ihr ganzes Leben mit uns Kindern ein besonders inniges Verhältnis pflegten und beide für uns immer eine unschlagbare Einheit bildeten, wurde mit Sicherheit auch von Großvater Fritz beeinflusst. Als mir meine kleine Tochter Holly kürzlich nach der Gute-Nacht-Geschichte im Halbschlaf zuflüsterte, "Es ist so schön, eine fröhliche Familie zu haben", da wusste ich, dass Großvater Fritz im Himmel gütig auf seine jüngste Urenkelin herabschaut. Mit dem Satz "Möge der Friede mit uns sein für alle Zeit" enden seine Aufzeichnungen. Worte für die Ewigkeit, auch 50 Jahre nach seinem Tod.