Ein Mittwoch im Oktober. Das blaue Haus meiner Eltern wird von der Sonne perfekt in Szene gesetzt. Der Paradiesgarten meiner Mutter ist so üppig gewachsen, dass ich mich wie einst Indiana Jones durch den Dschungel kämpfen muss, um das Küchenfenster zu erreichen. Ein Blick und ich sehe sie: Mit einer Tasse Kaffee, einem Schälchen Müsli und der traditionellen "Niederelbe-Zeitung" sitzt sie an "ihrem" Platz am Esstisch meiner Kindheit.
Sofort startet das Kopfkino: Der alte große runde Holztisch – unsere Debatten-Arena der Jugend. Ich dachte zurück an wilde Diskussionen mit meinen beiden Geschwistern, sah meinen verstorbenen Vater vor mir, der immer wieder Weisheiten aus seiner gedruckten Zitatquelle "Die Zeit" einstreute, um uns wieder auf eine Sachebene zu bringen. Meine Mutter, Sternzeichen Waage, war stets der Fels in der Brandung. Mit einem milden Lächeln gab sie meinem Vater noch ein Tässchen Beruhigungstee und uns etwas zu knabbern. Dann war kurz Ruhe.
Ich klopfe ans Fenster, sie blickte hoch, ein Strahlen, voller Liebe und Freude. Mit mir hatte sie nicht gerechnet, mitten in der Woche, zumal ich zuvor ein DHL-Paket und nicht mich selbst angekündigt hatte. Jahrzehntelange Erfahrung als Sohn haben mich gelehrt, die Mama lieber zu überraschen, als einen Besuch anzukündigen. Denn dann starten traditionell große Putzarien, es wird aufwendig vorgekocht und alle möglichen Leute werden einbestellt. Am Ende ist sie gestresst und kann den Besuch gar nicht genießen. Also besser als vertrautes Gesicht an der Fensterscheibe spontan Einlass begehren, eine Tasse Kaffee ist schließlich immer in der knallroten Kanne übrig.
Frank Behrendt: Der Guru der Gelassenheit
Frank Behrendt (Jahrgang 1963) gehört zu den bekanntesten Kommunikationsberatern Deutschlands. Der Absolvent der Deutschen Journalistenschule war Top-Manager in der Musikindustrie, beim Fernsehen und in großen Agenturen. Sein Buch "Liebe dein Leben und NICHT deinen Job" avancierte direkt nach Veröffentlichung zum Wirtschafts-Bestseller. Die Deutsche Public Relations Gesellschaft zeichnete den Mann, der immer gute Laune hat, als "PR-Kopf des Jahres" aus. Weitere Infos: www.frankzdeluxe.de Direkter Dialog: frankzdeluxe@gmail.com
Meine Mutter hatte an dem Tag Geburtstag, stolze 89 Jahre wurde sie jung. "Ich genieße jeden Tag immer noch die Freude des mir geschenkten Lebens", sagte sie mir. Eine wunderbare Einstellung. Nach wie vor gibt sie Nachhilfe, hilft zudem jungen Leuten, die durch die Prüfung gefallen sind und freut sich, wenn sie es dank ihrer Hilfe dann schließlich doch schaffen.
Wir tranken Kaffee, sie erzählte mir den neuesten Tratsch aus der Nachbarschaft. Bunte und Gala live, allerdings die Regional-Ausgaben. Weil Mama nichts vorgekocht hatte, lud ich sie ins "Ahoi" ein. TV-Star-Koch Steffen Henssler hat auch im beschaulichen Otterndorf einen Ableger eröffnet, ein großartiger Relax-Platz hinterm Deich mit direktem Blick auf den Weltschifffahrtsweg. Weite. Wasser. Wohlfühlen. Meine Mutter genoss es maximal, das alkoholfreie Bier und die Garnelen schmeckten ihr vorzüglich. Ich hatte Freude, weil sie sich freute.
Ein Moment of Excellence, wie ich ihn ihr öfter gerne schenke. Mal habe ich eines ihrer Enkelkinder dabei, mal die ganze Familie. "Ihr braucht mir nichts mitzubringen, eure Zeit ist Geschenk genug", sagt meine Mutter dann immer. Genau darum geht es. Zeit. Das kostbarste Gut der Welt, die meisten haben immer zu wenig davon. Aber wer ehrlich zu sich selbst ist, stellt fest, dass jeder von uns auch viel Zeit verschwendet.
"Nein" sagen, Zeit gewinnen
Wer einen rigorosen Sparkurs fährt, gewinnt Zeit und kann sie viel sinnstiftender investieren. Ich habe damit vor vielen Jahren begonnen und ganz viele Zeitfresser eliminiert. Auch Menschen, die einem nicht gut tun, nur nehmen und nie geben, habe ich gnadenlos aussortiert. Ich habe mich selbst gewundert, wie viel gewonnene Zeit einem das Zauberwort "Nein" beschert. Muss man jeder Einladung folgen? Nein. Muss man auf jeder Veranstaltung sein? Nein. Dieses Spielchen kann jeder für sich spielen und wird sich wundern, wie oft man Nein sagen kann und die Welt sich dennoch ohne gravierende Konsequenzen weiterdreht.
Die vermeintliche Antwort "Ich muss…" ist zumeist ohnehin vorgeschoben. Ich blicke im Zweifel immer kurz auf die Lieblings-Kaffeetasse meiner Frau: "Einen Scheiß muss ich" steht darauf. Spätestens dann beantworte ich mir die Frage, ob ich denn nicht vielleicht doch müsste, mit einem grinsenden Nein. "Ja" sage ich dafür ganz oft zu Menschen, die wunderbar sind. Ihnen zu helfen, ihnen zuzuhören, mit ihnen Zeit zu verbringen macht sehr viel Sinn und macht auch selbst glücklich.
So wie am vergangenen Wochenende. Diesmal war meine Schwiegermutter dran. Eine reizende Frau, die mich immer wie einen eigenen Sohn behandelt. Vor kurzem sagte sie eher beiläufig zwischen einer Tasse Kaffee und einem Stück Erdbeertorte, dass sie so gerne noch einmal nach Zoutelande, ein beschaulicher Ort am Strand in den Niederlanden, fahren würde. Dort war sie als junge Frau mit ihren Kindern und ihrem Mann gewesen. Es waren immer glückliche Tage, die Fotos sieht sie sich auf der Couch oft und gerne an.
Glücklich am Strand
Meine Frau und ich nahmen den Ball auf und getreu der Maxime meines Vaters – "Heute ist die beste Zeit" – schoben wir das Vorhaben nicht auf die lange Bank. Wetterbericht gecheckt, Lunchpakete gepackt, Hund, Kinder und Oma ins Auto und los ging es – an Schwiegermutters absoluten Sehnsuchtsort. Dort angekommen, wurden wir Zeuge einer beeindruckenden Metamorphose: Oma, die ansonsten über so manches Wehwehchen klagt, spazierte frohgelaunt dem Strand entgegen. An der Hand ihrer jüngsten Enkelin machte sie lachend Selfies, alle paar Meter blieb sie stehen, zeigte auf ein Strandhaus, eine Abzweigung, ein Restaurant und sagte: "Wisst ihr noch…" Sie war im Film der Erinnerungen und glücklich.
Zu ihrer großen Freude gab es auch das Restaurant "De Branding" noch. Da hatten schon meine Frau und ihre Geschwister "Fritjes" gegessen. Meine Schwiegermutter strahlte über das ganze Gesicht, als wir dort einkehrten und alles bestellten, was sie happy machte. Natürlich auch die besonderen Pommes Frites, die nirgendwo so gut schmecken wie dort. Zumindest meint das unsere Oma. Als dann noch große Mengen ihrer Lieblingskekse in einem Shop für die Rückfahrt gekauft wurden, war das Glück perfekt. "Der schönste Tag des Jahres" sei es gewesen, sagte sie uns später und sie wirkte um Jahre verjüngt, als sie mit ihren Keks-Schätzen in ihre Wohnung ging.
Zwei Frauen, die zusammen 177 Jahre alt sind, insgesamt sechs Kinder auf die Welt und auf einen guten Weg gebracht haben, waren unglaublich glücklich. Weil wir ihnen als Kinder Zeit geschenkt haben. Auch Tage danach sprudelten sie nur so voller Freude, hatten weitere Erinnerungen herausgekramt, erzählten allen Freundinnen von ihren Erlebnissen. Für mich ist klar, es wird bald wieder solche Surprise-Trips für die beiden älteren Damen geben. Sie tun ihnen gut und machen auch diejenigen, die sie ermöglichen, zutiefst glücklich.