Entert man den Nio ES6, wird sehr schnell eines klar: die Zeiten, als die Chinesen billige Kopien der westlichen Autos anfertigten, sind lange vorbei. Das Interieur macht einen guten Eindruck. Leder hier und da, dazu große Displays und jede Menge Platz. Vor allem der Beifahrersitz mit der ausfahrbaren Beinunterlage vermittelt Business Class-Ambiente. Klar. An einen Audi e-tron reicht oder auch Mercedes EQC die Anmutung dennoch nicht ganz heran, aber dafür soll das chinesische Elektro-SUV ab 2022 schon ab rund 60.000 Euro zu haben sein.
Raum-Schiff

Bis dahin ist noch etwas Zeit. Also stört es auch nicht, dass das Infotainment im besten Mandarin-Chinesisch mit uns kommunizieren will. Aber Symbole sind international und da lässt sich schon erahnen, dass sich der Nio auf diesem Feld nicht hinter den europäischen Konkurrenten verstecken muss. Bei der Technik kleckern die Chinesen nicht, sondern klotzen - und das mächtig. Insgesamt 23 Sensoren und Kameras, darunter eine Trifokalkamera, die die Straße vor dem Fahrzeug überwacht und eine, die die restliche Umgebung im Blick hat, sollen bis zu 20 Assistenzsysteme ermöglichen. Dazu zählen neben autonomen Fahrfunktionen auch ein Auto-Parkassistent und die Überwachung des kreuzenden Verkehrs (vorne und hinten). Diese Systeme kommen hauptsächlich von europäischen Zulieferern, während die Antriebs- und Batterietechnik fest in chinesischer Hand bleibt. Dazu später mehr.
Das Fahrwerk besteht aus einer Doppel-Wishbone-Achse vorne und einer Multilink-Hinterachse. Vier-Kolben Brembo Bremsen bringen den ES6 laut Nio bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h nach 33,9 Metern zum Stehen. Bei einem Auto, das um die 2.5 Tonnen wiegt, kein schlechter Wert. Wir sind in der Performance-Version des Nio ES6 unterwegs: Also mit einer Systemleistung von 400 kW / 544 PS - 160 kW / 218 PS vorne und 240 kW / 326 PS hinten sowie einem Drehmoment von 725 Newtonmetern. Die schwächere Variante hat 320 kW / 435 PS und ist mit zwei 160 kW-Elektromaschinen bestückt. Zu der Performance Version gehört auch eine Luftfederung, die das Einsteigen aufgrund des Karosserie-Absenkmechanismus erleichtert und sonst für Komfort sorgen soll.
Der Nio ES6 ist in erster Linie ein Reisemobil, kein kurvenwendiger Sportler, wie etwa der Audi e-tron S. Diese Aufgabe erledigt der China-Crossover zuverlässig. Solange es geradeaus geht, ist alles in Butter und die Kraft, mit der die beiden E-Maschinen das 4,85 Meter lange Gefährt nach vorne wuchten ist durchaus wettbewerbsfähig: In 4,7 Sekunden sind 100 km/h erreicht und der ES6 ist bis zu 200 km/h schnell. In den Kurven haben die deutschen Konkurrenten die Nase vorne. Die Lenkung fühlt sich synthetisch an und die Regelsysteme greifen zu früh ein. Das ist aber nichts, was wirklich störend ist und sich nicht noch nachbessern ließe. Die Fahrmodi "Öko", "Normal","Sport" und "Individuell" gleichen jedenfalls schon mal den europäischen Konkurrenten, wobei die Spreizung ausgeprägter sein könnte. Die Rekuperation ist definitiv spürbar und kann laut Nio im Fahrprogramm individuell angepasst werden. Wir konnten das aufgrund der Sprachbarriere nicht verifizieren.
Beim Batteriemanagement müssen die Chinesen ebenfalls noch nachlegen beziehungsweise es auf europäische Verhältnisse optimieren. Die 70 Kilowattstundenbatterie soll eine Reichweite von maximal 430 Kilometern garantieren. Als wir starteten, zeigte der Bordcomputer 360 Kilometer an. Allerdings waren die Akkus nicht vollständig geladen. Solange es in der Stadt im Stopp-and-Go-Verkehr vorangeht, hielt sich die Batterie wacker. Bei einem Füllstand von 79 Prozent zeigte das Display immer noch 340 Kilometer Restreichweite an. Ganz ordentlich. Auf der Autobahn wandelt sich dann das Bild schnell: Ist man flotter unterwegs, schmelzen die Kilometer schnell dahin, dabei waren wir nie schneller als mit 180 km/h unterwegs. "Ja, 120 km/h ist die magische Grenze", bestätigt ein Nio Sprecher den Eindruck. Dann kam erschwerend hinzu, dass im Sommer die Klimaanlage auch ordentlich arbeiten musste.
Beim Langstreckenreisen im ES6 bleiben wenig Wünsche offen. Die Karosserie besteht aus einer Aluminium-Carbon-Hybridkonstruktion und soll ziemlich steif sein. Das hilft bei der Abstimmung und dem Komfort. Allerdings nehmen die Windgeräusche mit der Geschwindigkeit zu. Aufgrund des Radstands von 2,90 Metern kommen auch im ES6, den Nio als "Intelligentes Langstrecken SUV" bezeichnet keine klaustrophobischen Ängste auf. Auch der Kofferraum ist mit einem Fassungsvermögen von 672 bis zu 1.433 Litern groß genug. Das Cockpit gleicht dem des ES8, wie ein Ei dem anderen. Auch die putzige Kugel-Emoji Assistentin "Nomi", die in China per Sprachbefehl allerlei Aktionen ausführt, wie zum Beispiel die Fenster öffnet oder mit der Innenraum-Kamera Selfies von den Passagieren schießt, ist mit an Bord.
Nomi kann aber auch anders und gibt bei Bedarf den gestrengen Verkehrswächter. Überfährt man, ohne zu blinken, eine Fahrbahnmarkierung. Setzt sich der virtuelle Begleiter eine Brille auf, auf deren Gläser Fahrbahnmarkierungen zu sehen sind. Auf den erhobenen Zeigefinger haben die Asiaten Gott sei Dank verzichtet. Ob alle diese Funktionen auch bei den europäischen Modellen an Bord sein werden, ist noch nicht klar. Das gilt auch für das Batteriewechsel-System, das in rund dreieinhalb Minuten die Akkus tauscht.