Selten war sich die Technikwelt so einig: Google Glass ist DAS nächste große Ding. Die Datenbrille aus dem Silicon Valley ist das neue hippe Ding, gegen das Apple und Microsoft einpacken können. Wer braucht noch ein Smartphone, das mühselig ans Ohr gehalten werden muss, wenn man das Gerät auch direkt neben jenes hängen kann? Eben. Wie es sich für eine neue Technik gehört, dürfen auch die Nörgler nicht fehlen. Glass sei eine Big-Brother-Brille, die unser aller Privatsphäre verletzt, mahnen Datenschützer seit der Vorstellung vor anderthalb Jahren. Google Glass - das Ende der Privatsphäre oder der Einstieg in die mobile Zukunft? Ich konnte einen Prototyp von Googles Datenbrille in der deutschen Google-Zentrale in Hamburg ausprobieren und sage: nichts von beidem.
Computer am Kopf
Auf den ersten Blick erinnert Glass mehr an eine kaputte Sportbrille als an ein 1500 Dollar teures High-Tech-Gadget. Das Design ist unspektakulär: Das Brillengestell besteht aus Metall, an der rechten Seite ist hinter schnödem Plastik der eigentliche Computer befestigt. Über dem rechten Auge, etwa auf Höhe der Augenbraue, hängt ein Glasprisma, auf das die Bilder projiziert werden. Das Bild hat eine Auflösung von 640 x 360 Pixeln, laut Google entspricht das der Größe eines 25-Zoll-HD-Bildschirms aus 2,40 Metern Entfernung. Der Akku befindet sich am Ende des Rahmens, in dem auch ein Lautsprecher untergebracht ist. Das Besondere: Töne werden nicht über eine Membran, sondern via Schall direkt auf meine Knochen übertragen. Das kribbelt angenehm auf der Haut, hat aber den Nachteil, dass Menschen in der unmittelbaren Umgebung mithören können.
Normalerweise trage ich keine Brillen, von ein paar wenigen sonnigen Wochenenden im Jahr abgesehen. Dennoch fühlt sich Glass angenehm auf der Nase an. Mit 43 Gramm drücken die Nasenpads kaum. Obwohl die rechte Seite der Brille deutlich schwerer ist, sitzt sie gut ausbalanciert. Wer will, kann zwei Brillengläser anstecken (Zusatzgewicht: 12 Gramm).
Damit aus der kaputten Sportbrille ein schlaues Gerät wird, muss Google Glass zunächst via Bluetooth mit einem Android-Smartphone gekoppelt werden. In einer separaten Glass-App können sämtliche Zugangsdaten für Dienste wie Facebook, Twitter und Evernote eingetragen werden. Sobald die Brille gestartet ist, taucht über dem rechten Auge ein schwarzer, briefmarkengroßer Bildschirm auf, der die aktuelle Uhrzeit anzeigt, darunter steht "OK Glass". Es kann losgehen.
Wikipedia über der Schläfe
Um die Brille aus dem Ruhezustand aufzuwecken, muss ich schnell den Kopf in den Nacken werfen. Das fühlt sich nicht nur unnatürlich an, sondern sieht auch merkwürdig aus und könnte in der U-Bahn für irritierte Gesichter sorgen. Wesentlich bequemer und deutlich unauffälliger ist es, die Datenbrille sanft am rechten Brillenbügel zu berühren.
Ist die Brille einsatzbereit, wartet sie auf den Befehl ihres Besitzers. Zögerlich sage ich "Okay Glass", doch ich bin zu leise, die Brille reagiert nicht und schaltet sich aus. Also nochmal den Kopf in den Nacken, zweiter Versuch. Mit kräftiger Stimme wiederhole ich die Worte langsam und deutlich - klappt.
Doch Zeit zum Verschnaufen gibt es nicht, sofort wird der nächste Befehl erwartet. Ich möchte wissen, wer Barack Obama ist ("Google Who is Barack Obama"), sofort bekomme ich den Wikipedia-Eintrag des US-Präsidenten angezeigt. Noch funktioniert die Sprachsteuerung nur auf Englisch, doch zum Start, der für 2014 angepeilt ist, soll Glass auch Deutsch verstehen.
Wie schlau Google Now (der für die Suche verantwortliche Dienst) mittlerweile ist, zeigt sich bei der nächsten Frage: Wie alt ist seine Frau? Seine, das meint in diesem Fall Obamas Frau Michelle - diese Beziehung ist nicht selbstverständlich für eine Maschine, die nur Nullen und Einsen kennt. Doch mühelos rüttelt mir die Brille die Zahl 49 in meinen Gehörgang.
Land in Sicht
Das allein ist schon ziemlich beeindruckend, doch für Glass war das nur eine Fingerübung. Es kann mit der eingebauten Fünf-Megapixel-Kamera Videos aufnehmen ("Record a Video") und Fotos knipsen ("Take a Picture"), beides kann direkt in sozialen Netzwerken geteilt werden. Mehr als zehn Sekunden pro Film sind derzeit nicht drin, weil der Akku sonst zu schnell leer ist.
Bislang gibt es nur wenige Apps für die Datenbrille, etwa die Nachrichtenseite "New York Times" oder Twitter. So kann man sich auf Wunsch die neuesten Schlagzeilen und Tweets anzeigen lassen. Praktisch ist die Navigations-Funktion ("Give Directions to…"): Suche ich nach einem Ort, erscheint sofort der passende Google-Maps-Ausschnitt vor dem Auge. Drehe ich meinen Kopf nach rechts, rotiert der Stadtplan eigenständig mit. Glass weiß, wohin ich laufe und in welche Richtung ich in diesem Moment sehe. Das ist praktisch - und auch irgendwie beängstigend.
Nicht brillant, aber zweckdienlich ist die Wetter-Funktion. "Okay Glass. Brauche ich morgen in Hamburg einen Regenschirm?", frage ich. Zwei Sekunden später kommt die Vorhersage: "Die Regenwahrscheinlichkeit für morgen beträgt 30 Prozent." Ich deute das als ein Ja, vergesse den Schirm aber trotzdem zu Hause. Einpacken muss man den Schirm trotz allen High-Tech nämlich immer noch selber.
Einige Kinderkrankheiten
Glass ist faszinierend, doch der Prototyp ist noch nicht fehlerlos. Die Qualität der Kamera ist mäßig, der Ton klingt blechern. Richtig eingestellt lässt sich der Bildschirm über dem rechten Auge sehr gut ablesen, ohne von der Umgebung abzulenken. Allerdings kann man bei Gegenlicht kaum noch etwas erkennen. Der Akku hält laut einigen Nutzern höchstens einen Tag durch, gelegentlich soll die Brille auch abstürzen. Das Scrollen auf Webseiten ist extrem umständlich und nicht zu gebrauchen. Das ist aber auch nicht Sinn des Geräts: Es geht eher um das schnelle Abfragen einer Information als um das gemütliche Surfen. Touristen etwa könnten in naher Zukunft direkt auf den Hamburger Michel schauen und sich sofort Öffnungszeiten und Eintrittspreise anzeigen lassen, ohne das Gebäude betreten zu müssen.
Das Ende der Privatsphäre dürfte von Glass vorerst nicht eingeläutet werden: Um eine Aufnahme zu starten, muss der User laut und deutlich "Take a Photo" rufen oder auffällig am Brillengestell herumdrücken. Die Gesichtserkennung ist zudem standardmäßig deaktiviert, was sich laut Google auch nicht ändern soll. Dennoch wird der Suchmaschinenriese im Zuge der Spionage-Affäre viel Überzeugungsarbeit bei Datenschützern und Verbraucherschützern leisten müssen.
Wie verändert Glass die Gesellschaft?
Zudem wird es spannend zu beobachten sein, wie die Nerdgestelle das gesellschaftliche Miteinander verändern werden. Werden wir in Gesprächen bald ständig mit den Augen nach oben rechts gucken, wenn uns der Gegenüber langweilt und wir lieber heimlich im Internet surfen? Gibt es bald Brillenverbot auf dem Herrenklo?
Das passende Schimpfwort gibt es schon für all jene, die ihre Umwelt live und unbemerkt ins Netz übertragen wollen: Glassholes. Wer mit der englischen Sprache vertraut ist, erkennt schnell die klangliche Ähnlichkeit zu einem Schimpfwort. Doch früher war auch das Mobiltelefon negativ besetzt, man verband es mit raffgierigen Bankern und geltungssüchtigen Managern. Heute gibt es in Deutschland mehr Handys als Einwohner.