Elon Musk ist ein Gefangener zwischen den Extremen. Genialer Visionär auf der einen, kompromissloser Geschäftsmann auf der anderen Seite. Bei seinen Entscheidungen treibt den Tech-Milliardär nicht das Ob, sondern in erster Linie das Wie an. Zumindest ist das der Eindruck, den seine jüngste Übernahme von Twitter hinterlässt. Nach einem monatelangen Hin und Her, das seine Follower gut unterhalten, Investoren aber zur Verzweiflung gebracht haben dürfte, gehört dem 51-Jährigen neben dem größten Elektroautobauer, einer Raketenfirma und einem Bohr-Unternehmen nun also auch eines der einflussreichsten sozialen Netzwerke des Planeten. 44 Milliarden US-Dollar hat er sich das Ganze kosten lassen.
Wie es für Musk so typisch ist, hat er (neben einem Waschbecken) auch große Pläne mitgebracht. Er will die Plattform von Bots befreien, die Moderation von Inhalten auf ein Minimum herunterschrauben und (nach einem ganz erstaunlichen Schlagabtausch mit Horror-Autor Stephen King) verifizierte Accounts zur Kasse bitten. Mit alldem könnte er die Meinungsfreiheit, als deren Verteidiger er sich inszeniert, massiv gefährden.
Musk verwechselt Moderation mit Manipulation
Dabei hatte Musk behauptet, nicht jede Art der Inhalte-Moderation abzulehnen. Er wolle lediglich sicherstellen, dass die Nutzer grundsätzlich twittern können, was immer sie wollen – solange es legal ist. Das "Problem" dabei: "In den Vereinigten Staaten ist jede Art von Äußerung, die kein direkter Aufruf zu drohender Gewalt ist, legal", so das US-Magazin "The New Republic". Damit sind auch Falschinformationen – und Lügen – von der Verfassung geschützt. Das hat einen guten Grund. Schließlich könnte die Regierung ansonsten kritische Berichterstattung als "Fake News" abstempeln, um Widersacher zum Schweigen zu bringen – so, wie es Donald Trump immer wieder versucht hat, gibt die "Los Angeles Times" zu bedenken. Allerdings findet der erste Verfassungszusatz auf sozialen Medien ohnehin keine Anwendung. Als Unternehmen hat Twitter sozusagen Hausrecht. Was gezwitschert wird, das können die Betreiber nach eigenem Ermessen regulieren – oder eben nicht.
Feststeht: Dem neuen Twitter-Chef ist die "übermäßige" Moderation ein Dorn im Auge. Wenn es nach Musk geht – und das tut es jetzt– soll sich das Netzwerk größtenteils selbst regulieren. Mit anderen Worten: minimale Regeln, maximale Redefreiheit. Doch berge diese fehlende Kontrolle die Gefahr, "dass [Twitter] zu dem giftigeren, spaltenden Ort zurückkehren könnte, der es [früher einmal] war", zitiert das Nachrichtenportal "Grid News" Paul Barrett von der Universität New York (NYU). Ohne ebenjene Grundregeln, die Musk als Eingriff in die Redefreiheit versteht, lädt er Trolle zu einem nie endenden Tag der offenen Tür ein. Musk steht mit Twitter vor einem altbekannten Problem: Der oft schwierigen Trennung von Meinung und Fakten. Corona war eines der besten Beispiele dafür. Auch zu Hochzeiten der Pandemie ging es auf den sozialen Medien oftmals nicht um prüfbare Argumente, sondern darum, wer am lautesten schreit.
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Wie es aussieht, wenn ungeprüfte Falschinformationen im muskschen Netzwerk an die Öffentlichkeit gelangen, bewies der neue Inhaber erst kürzlich selbst, als Musk eine krude Verschwörungstheorie zum Attentat auf den Ehemann von US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi postete.
In den USA und in der EU wird seit Längerem diskutiert, wie soziale Medien reglementiert werden können. Allerdings geht es in den Gesetzesentwürfen nicht darum, Nutzern den Mund zu verbieten, sondern um Transparenz, Rechenschaftspflicht, das Verhindern von Hatespeech. Seitdem bekannt wurde, dass Musk das Ruder an sich reißt, wurde das N-Wort 13-mal häufiger gebraucht, hat das Nachrichtenportal "Bloomberg" dokumentiert.
Die Mär der bösen Bots
Trotzdem ist Musk offenbar der felsenfesten Überzeugung, dass freier Meinungsaustausch auf Twitter derzeit nicht möglich ist. Aus seiner Sicht sind es nicht zuletzt Bots (gefälschte Nutzerprofile), die für die systematische Unterdrückung bestimmter (vor allem konservativer) politischer Ansichten verantwortlich sind. Wohl auch, um den Kaufpreis zu drücken, hatte Musk immer wieder behauptet, dass rund ein Fünftel aller Twitter-Accounts gefälscht seien.
Genau zu diesen Vorwürfen haben Filippo Menczer von der Universität Indiana und sein Team geforscht, wie der IT-Wissenschaftler in einem Beitrag für das australische Nachrichtennetzwerk "Conversation" berichtet. Die Experimente hätten unter anderem gezeigt, "dass republikanische Nutzer konservative Bots eher mit Menschen verwechseln, während demokratische Nutzer eher konservative menschliche Nutzer mit Bots verwechseln". Für ihre Studie hätten Menczer und sein Team selbst Twitter-Bots geschaffen, die jeweils konservativen und liberalen Nachrichtenaccounts folgten. Die Überraschung: Der Twitter-Algorithmus habe konservative Inhalte und Accounts bevorzugt.
Musks Sorge darüber, dass konservative Stimmen auf Twitter unterdrückt werden, sei demnach unbegründet, meint Menczer. Auch eine Untersuchung des Center for Business and Human Rights an der NYU fand im Rahmen einer Studie keinerlei Beweise dafür, dass die Plattform liberale Meinungen bevorzugt. Im Gegenteil – die Autoren bezeichneten die Behauptung selbst sogar als Desinformation.
Studienergebnisse des MIT hat bereits 2018 belegt, dass sich Fake News auf Twitter bis zu sechsmal schneller verbreiten als Fakten. Dass Desinformationen retweetet werden sei zudem bis zu 70 Prozent wahrscheinlicher. Doch entgegen Muks Ansicht sind es nicht die Bots, die dafür verantwortlich sind. "Stattdessen verbreiten sich Falschnachrichten auf Twitter schneller, weil Menschen ungenaue Nachrichten retweeten", so die Studienautoren.
Musk macht den Werbekunden Angst
Musks Absichten mögen noch so edel sein. Der 51-Jährige ist in erster Linie Unternehmer. "Wir müssen die Rechnungen irgendwie bezahlen!", antwortete Musk am Montag auf einen Tweet von Horror-Autor Stephen King. Der hatte gedroht, seinen Account zu löschen, wenn er in Zukunft für seinen "blauen Haken" bezahlen müsse. Laut dem britischen "Guardian" gab es 2021 rund 400.000 verifizierte Accounts – weniger als ein Prozent der Gesamtnutzerschaft. Würde jeder von ihnen monatlich die von Musk vorgeschlagenen acht Dollar pro Monat zahlen, würde das Twitter umgerechnet 39 Millionen Euro Mehreinnahmen bescheren. Ein massiver Einschnitt für vergleichsweise wenig Ertrag. Denn gerade die verifizierten Accounts sind es, die maßgeblich zur Transparenz der Plattform beitragen.
Dabei trifft Musk durchaus einen wunden Punkt – Twitter muss endlich profitabel werden. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete die Plattform fünf Milliarden US-Dollar Umsatz – aber keinen Cent Gewinn. Im Gegenteil. Twitter verzeichnete rund 221 Millionen Dollar Verlust, 2020 waren es sogar 1,1 Milliarden Dollar. In nur zwei der 16 Jahren Firmenhistorie hat der Microbloggingdienst überhaupt schwarze Zahlen geschrieben (2018 und 2019). Wie das Nachrichtenportal "Grid" berichtet, hat Musk dem Unternehmen mit der Übernahme zudem 13 Milliarden Dollar Schulden aufgebrummt – die geschätzten Zinszahlen beliefen sich auf etwa eine Milliarden Dollar pro Jahr.
"Twitter kann sich nicht nur auf Werbekunden verlassen", hieß es in Musks Tweet vom Montag weiter. Auch damit hat er recht. Im vergangenen Jahr stammten 92 Prozent des Umsatzes aus dem Anzeigengeschäft. Die Werbetreibenden sehen in Musk allerdings eher ein Schreckgespenst, denn einen Retter. Wie die "New York Times" berichtet, haben erst kürzlich fünf Führungskräfte gekündigt, nachdem eines der größten Werbeunternehmen der Welt, IPG, seinen Kunden offiziell empfohlen hatte, ihre Werbeausgaben auf Twitter vorerst einzustellen. Zu IPGs Kunden gehören Riesen wie American Express, Coca-Cola und Walmart. Die Unternehmen selbst, so Katie Klumper, die Geschäftsführerin von Black Glass, einer Beratungsfirma, die zu IPG gehört, beobachteten das "Drama" um Musk genauestens – die meisten würden dem Rat von IPG alsbald folgen. So hatte Tesla-Konkurrent General Motors kurz nach Musks Übernahme alle Kampagnen auf Twitter eingestellt. Am Dienstag veröffentlichten zudem mehr als 40 Bürgerrechtsgruppen ein gemeinsames Schreiben, in dem sie die Unternehmen ebenfalls anhielten, ihre Werbung auf Twitter auszusetzen. "Wenn Elon Musk auch nur einen Bruchteil dessen umsetzt, was er bereits zugesagt hat, dann kann und wird Twitter keine sichere Plattform für Marken sein", so die Unterzeichner.
Quellen: "The Conversation"; "Grid News"; "New York Times"; "Politico"; "Los Angeles Times"