Das Jahr 2013 war eine Zäsur in der iPhone-Geschichte. Zum ersten Mal stellte Apple nicht nur ein, sondern zwei neue iPhones auf einen Schlag vor. Parallel zum iPhone 5S brachte der Konzern das iPhone 5C auf den Markt, das mit einem etwas niedrigeren Preis und knalligen Farben vor allem junge Käufer anlocken sollte. Ein Apple-Telefon in Blau, Gelb, Pink, Grün und Weiß war ein Novum. Und ein Wagnis, das nicht belohnt wurde. Das iPhone 5C wurde nach einem Jahr aussortiert, ein Nachfolger kam nie auf den Markt. Fortan ging es in Cupertino wieder klassisch zur Sache. Vier Jahre dominierten die Farben Silber, Schwarz und Gold.
Mit dem iPhone XR treibt es Apple nun wieder bunt, und macht doch alles anders. Vorgestellt wurde das Smartphone bereits im September gemeinsam mit dem iPhone XS und XS Max. Erhältlich ist es aber erst ab diesem Freitag. Mit 849 Euro ist es 300 Euro günstiger als das iPhone XS und sogar 400 Euro günstiger als das nur etwas größere XS Max. Klar, auch das ist kein Schnäppchen. Aber günstiger kommt man derzeit nicht an ein Apple-Smartphone der neuen Designlinie mit Gesichtsentsperrung.
Doch ist das iPhone XR ein guter Deal oder muss man für den geringeren Preis zu viele Abstriche machen? Wir haben das Smartphone bereits ausführlich getestet.
Bunt wie ein Süßigkeitenregal
Kein Home-Button, fast nur Display, oben eine Aussparung (die sogenannte Notch): Von vorne betrachtet reiht sich das iPhone XR nahtlos in Apples X-Designlinie ein. Die Rückseite ist jedoch ein Statement: Mit Schwarz, Weiß, Rot, einem freundlichen Gelb, Babyblau und dem Orange-Farbton Koralle hat das XR so viel Farbauswahl wie lange nicht mehr. Der Rahmen ist farblich auf die Rückseite abgestimmt und besteht im Gegensatz zum iPhone X und XS nicht aus Edelstahl, sondern aus Aluminium. Das macht in der Nutzung aber keinen Unterschied, zumal viele Telefone ohnehin in Schutzhüllen stecken.
Das Gehäuse ist staub- und wasserdicht nach IP67-Standard. Das ist nicht die gleiche Schutzklasse wie bei den S-Modellen, fällt das iPhone aber doch einmal ins Waschbecken, muss man sich keine Sorgen machen. Dann sollte man es nur ausreichend lange trocknen, bevor es wieder an die Steckdose kommt.
Die Gesichtsentsperrung Face ID, deren Sensoren im oberen Bildschirmrand stecken, ist ebenfalls identisch mit der des iPhone XS.
Der Taktgeber für das kommende Jahr
Dass Apple aus den Fehlern des iPhone 5C gelernt hat, beweist der Prozessor. 2013 verbaute der Konzern noch den langsameren Vorgänger, wodurch das Gerät im Vergleich zum teureren Modell unattraktiv war. In diesem Jahr geht man hier keine Kompromisse ein: Im iPhone XR steckt der gleiche A12-Bionic-Chip, der auch das iPhone XS und XS Max antreibt. Dabei handelt es sich um den derzeit schnellsten Prozessor auf dem Markt, der selbst das neue Pixel 3 XL und Huawei Mate 20 Pro auf die Plätze verweist.
Der Prozessor ist 15 Prozent schneller als der Vorgänger A11 und optimiert viele Aufgaben im Hintergrund, etwa die Porträtbild-Berechnung (dazu später mehr bei den Kameras). Anbei eine Übersicht mit den Ergebnissen des Geekbench-4-Testprogramms:
Gerät | Single-Core Score | Multi-Core Score |
iPhone XR | 4813 | 11481 |
iPhone X | 4204 | 10108 |
iPhone 7 Plus | 3306 | 5411 |
Galaxy Note 9 | 3750 | 9016 |
Zukunftssicher ist das Modell obendrein. Das iPhone XR dürfte ebenso lange neue Betriebssystem-Versionen erhalten wie das Spitzenmodell. Drei, vier Jahre ist man gewiss auf der sicheren Seite und erhält in diesem Zeitraum alle notwendigen Updates, mit denen Apple in der Regel nicht nur Sicherheitslücken stopft, sondern auch neue Datenschutz- und Privatsphäre-Features nachliefert. Das ist vor allem bei günstigen Android-Herstellern nicht selbstverständlich.
Das Display macht den Unterschied
Der größte Unterschied zum Spitzenmodell ist der Bildschirm. Zunächst zum Offensichtlichen, der Größe: Der Screen des XR misst gewaltige 6,1 Zoll, damit liegt er genau zwischen dem des iPhone XS (5,8 Zoll) und XS Max (6,5 Zoll). Kompakt ist das nicht, aber die meisten Menschen dürften das Smartphone einhändig bedienen können.
Beim iPhone XR setzt Apple nicht auf die mit der X-Generation eingeführte OLED-Technik, sondern auf LCD, wie es in früheren Modellen zum Einsatz kam - wenn auch in einer leicht verbesserten Form. Die Ausleuchtung ist gleichmäßig, die Helligkeit hoch, die Farbtreue mit dem XS identisch, auch in puncto Geschwindigkeit spürt man keine Unterschiede zum Spitzenmodell. Legt man die beiden Telefone nebeneinander, erkennt man jedoch, dass die Kontraste beim XR nicht ganz so satt sind wie bei den OLED-Screens.
Zudem ist der Rahmen um das Display etwas größer als bei den S-Modellen, was mehrere Tester aber nicht als störend empfanden.
Die Sache mit der Auflösung
Für Diskussionen sorgte im Vorfeld ohnehin ein anderes Detail: die Auflösung. Diese liegt bei 1792 x 828 Pixeln, was nicht nur weniger ist als beim kleineren iPhone XS (2436 x 1125), sondern auch als bei fast jedem zeitgemäßen Android-Smartphone. Auf dem Papier ist das ein riesiger Unterschied. In der Realität fällt der jedoch nur bei sehr genauem Hinsehen auf.
Beim iPhone XR kommt ein Display mit einer Pixeldichte von 326 ppi zum Einsatz, dass entspricht der Schärfe der kleineren Vor-X-Modelle (iPhone 5/5S/5C/SE/6/6S/7/8) und ist immer noch mehr, als es etwa bei E-Book-Readern Standard ist. Insofern kann man den Skeptikern Entwarnung geben: Man wird auf dem Homescreen nicht von Pixelklötzen begrüßt. Klar, wer die Nase gegen das Display drückt und die Schrift inspiziert, wird feststellen, dass die Buchstaben nicht ganz so filigran geschwungen sind wie auf den teureren Modellen. Bei normalen Sehabstand fällt das jedoch nicht ins Gewicht und dürfte den meisten Menschen keine 300 Euro extra wert sein.
Man muss nicht mehr feste drücken
Ein Feature, das beim iPhone XR gestrichen wurde, ist 3D Touch. Ein typisches Beispiel dafür ist das Taschenlampensymbol im Kontrollcenter: Ein einfacher Klick aktiviert das Licht, mit einem festen Druck regelt man die Intensität. Beim iPhone XR führt Apple nun das sogenannte “Haptic Touch“ ein: Man aktiviert die sekundäre Funktion einer App, indem man den Finger länger auf den Bildschirm legt.
Vermutlich verzichtet Apple aus Kostengründen auf die Funktion. Vermissen werden sie ohnehin nur die wenigsten: Technisch gesehen war 3D Touch zwar eine clevere Idee, intuitiv war die Funktion jedoch nie. Denn stets musste man erst einmal ausprobieren, welche App es unterstützt, ob es überhaupt einen Mehrwert hat und sich das Ganze dann auch noch merken. So richtig warm wurden die Nutzer damit deshalb nie.
Kamera: Tolle Porträts, aber kein Zoom
Der zweite große Unterschied betrifft die Kamera. Singular. Auf der Rückseite steckt im Gegensatz zum iPhone XS nur eine Linse. Die 12-Megapixel-Kamera ist identisch mit der Hauptkamera des XS, die in unserem Test mit sehr guten Fotos punktete. Die zwei wesentlichen Foto-Neuerungen dieses Jahres - Intelligentes HDR und eine regulierbare Tiefenunschärfe - werden vom iPhone XR dank Software-Tricks erfreulicherweise ebenfalls unterstützt.
Somit lassen sich trotz der fehlenden Doppellinse ansehnliche Porträtfotos aufnehmen. Das klappt bei Menschen sehr gut, bei Landschaftsdetails und Objekten aber leider nicht (siehe Fotogalerie). Die Software ist ganz klar auf menschliche Porträts optimiert, dem häufigsten Nutzungsszenario. Wer aber regelmäßig Stillleben fotografiert, greift besser zu einem Modell mit Doppelkamera. Dann hat man auch den zweifachen optischen Zoom, den das XR leider nicht unterstützt.
Insgesamt macht die Kamera des XR hervorragende Fotos. Ihre Stärke ist das realistische Einfangen von Lichtstimmungen, im Vergleich zu älteren Generationen sind vor allem Aufnahmen bei schummrigen Licht besser. Tagsüber sind die Fotos sehr detailreich. Die Unterschiede zum iPhone XS halten sich in den meisten Situationen in Grenzen.
Ob es die beste Smartphone-Kamera ist, werden wir in den nächsten Wochen herausfinden, wenn wir die vier aktuell besten Kamera-Smartphones - das iPhone XS und XR, das Huawei Mate 20 Pro sowie das Pixel 3 - im Fotoduell gegeneinander antreten lassen.
Akkulaufzeit
Ausgerechnet das günstigste Modell des 2018er-Lineups hat die beste Akkulaufzeit. Der Grund liegt auf der Hand: Durch die geringere Bildschirmauflösung muss der Prozessor weniger Pixel über den Bildschirm jagen, wodurch sich der Stromverbrauch reduziert. In unserem Test hielt das iPhone XR je nach Nutzung ein bis zwei Tage durch. Es lässt sich kabellos via Qi-Ladegerät aufladen, das muss aber extra erworben werden. Das beigelegte Ladeteil lädt leider sehr langsam. Wie es besser geht, zeigte Huawei mit dem Mate 20 Pro: Im Lieferumfang ist ein 40-Watt-Netzteil enthalten, das den Akku in einer halben Stunde zu 70 Prozent auflädt.
Dual-SIM: Zwei Nummern gleichzeitig nutzen
Das iPhone XR gehört neben dem iPhone XS und XS Max zu den ersten Apple-Telefonen mit Dual-SIM-Unterstützung. Damit ist es möglich, zwei Telefonnummern auf einem Gerät zu nutzen (etwa dienstlich und privat). Allerdings ist eine der beiden SIM-Karten eine eSIM, also eine elektronische SIM-Karte. Die wird in Deutschland derzeit nur von Telekom und Vodafone unterstützt, und das auch nur unter bestimmten Bedingungen. Telefónica (O2) arbeitet noch an der Implementierung. Keine Chance auf eine eSIM dürften in naher Zukunft Kunden von Discountern (Aldi Talk, Discotel …) oder Tochterfirmen der Netzbetreiber haben (etwa Congstar). Um die Funktion nutzen zu können, benötigt man iOS 12.1.
Fazit: Das iPhone für jedermann
Mit dem iPhone XR zeigt Apple, dass der Konzern aus dem 5C-Debakel gelernt hat. Die Kombination aus dreistelligem Preis und guter technischer Ausstattung dürfte es zu dem Apple-Telefon machen, das in den kommenden Monaten am häufigsten über die Ladentheke wandern wird. Denn es hat keine wirklichen Schwächen. Technisch steckt fast alles drin, das die teureren Modellen auszeichnet: Ein großer Bildschirm, Dual-SIM, Intelligentes HDR, eine gute Kamera und die zuverlässig funktionierende Gesichtsentsperrung. Das größte Pfund ist der A12-Prozessor. Der ist nicht nur rasend schnell und bietet dieselben, cleveren Software-Tricks der teuren Modelle, sondern verspricht die nächsten Jahre regelmäßige Updates.
Für den niedrigeren Preis muss man jedoch einige Abstriche in Kauf nehmen. Das Display ist nicht ganz so scharf und kontrastreich wie in den Spitzenmodellen, 3D Touch ist nicht mehr an Bord. Die Kamera hat keinen Zweifach-Zoom und nur einen abgespeckten Porträtmodus, der bei Menschen zwar tolle Aufnahmen macht, bei Landschaftsaufnahmen aber ins Straucheln gerät. Der Rahmen besteht aus Aluminium statt Edelstahl und das Gerät ist minimal dicker. Insgesamt dürften das aber Details sein, die für viele nicht weit oben in der Prioritätenlisten stehen.
Wer bereits ein iPhone X besitzt, sollte es behalten. Für Besitzer älterer Modelle könnte sich der Umstieg allein wegen des großen Bildschirms lohnen. Für das teurere iPhone XS und XS Max sprechen der kompaktere (beziehungsweise größere) Formfaktor, das stärkere Display und die bessere Kamera.
Aktuelle Android-Alternativen sind das Huawei Mate 20 Pro (um 1000 Euro), das Pixel 3 XL (um 1000 Euro) und das Galaxy Note 9 (um 750 Euro).