SARS führt in China sogar dazu, dass Löwen sich vor lauter Verzweiflung gegenseitig auffressen. Das hat direkt mit den dramatischen Einbrüchen im Tourismusgeschäft zu tun. Ausländische Reisende meiden das Reich der Mitte, seit der SARS-Ausbruch in Südchina und Peking vor drei Monaten weltweit bekannt wurde. Die Chinesen selbst, ein zunehmend reiselustiges Volk, blieben aus Angst vor der gefährlichen Lungenseuche lieber zu hause. Weil die Besucherzahlen im Zoo der Hafenstadt Xiamen um rund neunzig Prozent fielen, kürzten die Direktoren nicht nur die Gehälter der Angestellten, sondern auch den Löwen das Futter. In der vergangenen Woche waren die Raubkatzen so hungrig, dass sie übereinander herfielen und sich gegenseitig zerfleischten. Sie wurden zu SARS-Opfern, ohne mit der Krankheit infiziert gewesen zu sein. (Lesen Sie meinen Tagebucheintrag vom 9. Mai Die Kunst an SARS zu sterben, ohne SARS zu haben)
Über den Autor
Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijon Geschichte studierte, sagt von sich selbst: "Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao."
China meldete in den vergangenen Tagen nur noch wenige SARS-Neuansteckungen
China meldete in den vergangenen Tagen nur noch wenige SARS-Neuansteckungen. Deshalb hat Shanghai, die glitzernde Metropole an der Ostküste, beschlossen, ab 1. Juli wieder Touristengruppen aus dem Ausland in die Stadt zu lassen. Shanghai, das im vergangenen Jahr 2, 1 Millionen Besucher aus dem Ausland und 88 Millionen chinesische Besucher verzeichnete, beziffert seine SARS-bedingten Verluste in der Tourismusbranche auf mindestens 5 Milliarden Yuan, umgerechnet rund 530 Millionen Euro. Die 319 Sterne-Hotels rechnen mit mehr als 300 Millionen Euro Einbußen, die 600 Reiseunternehmen mit Einbrüchen von über 200 Millionen Euro.
Buchungsrückgänge von bis zu sechzig Prozent
In Peking, das mit der Verbotenen Stadt und der Großen Mauer im vergangenen Jahr mehr als drei Millionen ausländische Touristen anzog, verzeichneten die vor der SARS-Krise stets gutgebuchten Hotels Buchungsrückgänge von bis zu sechzig Prozent. In vielen Nobelherbergen war in den vergangenen Wochen nur noch jedes zehnte Zimmer belegt. Hotelmanager rechnen erst für den Herbst damit, "dass das Geschäft langsam wieder anzieht".
Bericht von Bianca Otero
Aus Xian, der in Zentralchina gelegenen alten Kaiserstadt mit der weltberühmten Tonkrieger-Armee, schickt Bianca Otero, eine amerikanische Fotografin, die trotz SARS mit dem Fahrrad von Peking nach Kunming fährt (Tagebucheinträge vom 7. Mai Eine misslungene Flucht aus Peking und 22. Mai SARS tötet, die Welt schaut weg), folgenden Bericht:
"Eigentlich wollte ich schon früher in Xian angekommen sein. Aber zweihundert Kilometer vor der Stadt bricht mir bei einem Abendessen mit Chinesen ein Zahn ab. Fünf Tage lang muss ich mich einer Wurzelbehandlung unterziehen, in einer finsteren Klinik fernab jeglichen westlichen Standards. Mir fallen Medienbericht darüber ein, wie sich Zehntausende in China beim Blutspenden mit AIDS infizierten, weil die Ärzte keine Einwegspritzen benutzten. Mein Zahnarzt aber packt jedesmal sorgfältig eine neue Spritze aus der Plastikverpackung aus und einen Mundschutz trägt er wegen SARS auch. Anders als manche Männer in Peking finde ich das nicht etwa anziehend (Tagebucheintrag vom 19. Mai Warum SARS Masken sexy sind), aber dennoch sehr beruhigend. Trotzdem machen Wurzelbehandlungen keinen Spaß.
Als ich am Stadtrand von Xian an einer Manufaktur vorbeifahre, die lebensgroße Kopien der Tonkrieger brennt, kann ich nicht anders als mir einen Scherz daraus zu machen, einem der Terrakotta-Soldaten einen Mundschutz umzubinden. Ich will endlich einmal wieder lachen. Am Anfang meiner Reise, sind Bauern in den Dörfern auf mich losgegangen, weil sie dachten, ich würde sie mit SARS anstecken. Ich bin zwei Tage durch Regen gefahren und habe dem ein oder andren schweren Gewitter getrotzt. Jetzt lache ich aus vollem Herzen. Die beiden Arbeiter tun es auch. "Bei uns in Xian gibt es kein SARS", versichern sie mir. Dennoch hält SARS die Tourismusindustrie der Stadt fest im Griff. Normalerweise besuchen zwanzig Millionen Reisende aus China die Stadt. Aus dem Ausland kamen im vergangenen Jahr 740 000 ach Xian. "Wenn wir in diesem Jahr auf ein Viertel davon kommen, sind wir schon froh", erklärt mir der Leiter des Tourismusbüros. Auf dem weiten Gelände der Terraotta-Armee verirren sich einige Dutzend Besucher. Ansonsten muss man hier Schlange stehen, manchmal stundenlang", versichert mir meine Führerin Janet. Wie die meisten Chinesen, die mit Ausländern zu tun haben, hat sie sich einen englischen Namen zugelegt. Seit neun Jahren arbeitet sie als Fremdenführerin, eine Krise wie diese hat sie noch nicht erlebt. An guten Tagen machte sie vor SARS bis zu 1000 Yuan, rund 100 Euro. Nun bin ich ihre erste Kundin seit einer Woche. "Viele sind entlassen worden, die anderen stürzen sich auf jeden Reisenden", seufzt sie. "Schauen Sie nur, die hunderten Händler mit ihren Andenken, Postkarten, Getränken und Snacks - alle weg. Was wird nur werden?" Im Glockenturm-Hotel verrät mir der Manager: "Wir haben sieben von unseren acht Stockwerken geschlossen. Von 120 Zimmern sind heute sechs vermietet und die zu einem Rabatt." Für mich ist es keine schlechte Zeit zu reisen, denke ich. Die Tonkrieger-Armee hatte ich beinahe für mich alleine. Das passiert sonst nur Staatsgästen. Hotelzimmer kriege ich zu Spottpreisen. Man muss nur den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen. "
Bianca Otero/Matthias Schepp