Das Schlimmste werden wohl die Zuschauer und Jurys verhindern. Wenn am Samstagabend Alyona Lanskaya als weißrussische Madonna aus einer überdimensionalen Discokugel entsteigt und "Solayoh" trällert, hat sie nur wenige Chancen auf einen Sieg. Die European Broadcasting Union (EBU) als Veranstalter des Eurovision Song Contest wird einmal mehr von einem viel zu kurzen Lamettakleid und einer dünnen Stimme vor der Frage gerettet: Was wäre, wenn Weißrussland gewinnt? Findet der Grand Prix dann in der letzten Diktatur Europas statt?
Ein Jahr nach Baku scheint man sich in der EBU-Zentrale in Genf darüber nicht allzu viele Gedanken gemacht zu haben. Dabei hätte der ESC 2012 in Aserbaidschan genug Anlass zum Nachdenken gegeben. Präsident Ilham Aliyew missbrauchte im vergangenen Jahr die Veranstaltung als Propagandashow für sein autoritäres Regime, ließ in der Pause sogar seinen Schwiegersohn auftreten. Blauäugig und naiv wurden die Verantwortlichen der EBU zu Gehilfen eines Mannes, der systematisch Menschenrechte verletzt.
Wandel durch Annäherung? Von wegen! Hoffnungen, der ESC in Baku könne mehr Demokratie und Rechtstaatlichkeit in der Kaukasusrepublik bewirken, wurden enttäuscht. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen hat sich die Lage im Land weiter verschärft. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen wird der Druck auf Oppositionelle und kritische Journalisten erhöht. Auch der einzige Schwulenclub der Stadt, vor einem Jahr Anlaufpunkt vieler Eurovisionstouristen, musste seine Pforten längst wieder schließen.
"Unsere Mitglieder sind nicht die einzelnen Staaten, sondern die Rundfunkanstalten." Mit solchen Sätzen versucht sich Jan Ola Sand, der innerhalb der EBU für den Song Contest verantwortlich ist, aus der Affäre zu ziehen. Unerwähnt lässt er dabei, dass die die meisten Sender staatlich bzw. staatsnah sind - wie in Deutschland ARD und ZDF auch. Dabei müsste auch Sand wissen, dass der weißrussische Sender BTRC eine Marionette des Regimes von Alexander Lukaschenko ist. Selbst bei Unterhaltungssendungen wie dem weißrussischen Vorentscheid zum ESC werden Zuschauerabstimmungen ignoriert und manipuliert.
EBU handelt nach dem Pippi-Langstumpf-Motto
Dringen derartige Informationen nicht bis nach Genf, zum Sitz der EBU? Doch, aber sie werden schöngeredet und man handelt frei nach dem Pippi-Langstumpf-Motto "Wir machen uns die Welt, widde-widde wie sie uns gefällt." Auf stern.de-Anfrage, wie sich die EBU bei einem Sieg Weißrusslands verhalten würde, antwortete Sietse Bakker, Veranstaltungschef des ESC: "Jede teilnehmende Rundfunkanstalt, die sich an die Regeln der EBU hält, darf im Falle eines Sieges den Eurovision Song Contest ausrichten. Wir verlangen zusätzlich eine schriftliche Zusicherung der örtlichen Behörden, die die Sicherheit, Pressefreiheit und Redefreiheit aller akkreditierten Delegationen garantiert." Über die Sicherheit der vielen Fans, die Jahr für Jahr dem Grand Prix hinterher reisen, verliert Bakker kein Wort.
Das Undenkbare, es könnte also tatsächlich passieren. Seine Antwort lässt keine Zweifel daran, dass die EBU den ESC auch in Minsk ausrichten würde. Als Begründung verschanzen sich die Verantwortlichen hinter Regelwerken und Statuten. Damit tun sie sich und dem Contest keinen Gefallen. Es schadet dem Ansehen des Wettbewerbs, der offiziell Wert darauf legt, keine politische Veranstaltung zu sein. Doch was könnte politischer sein, als ein Grand Prix beim Diktator?
Stattdessen plagen Genf derzeit scheinbar drängendere Fragen. Nämlich die, ob ein lesbischer Zungenkuss auf der ESC-Bühne erlaubt ist. Am Schluss ihres Auftritts küsst die finnische Teilnehmerin Krista Siegfrids eine Frau. Bei den Proben noch mit Zunge, ist daraus inzwischen ein harmloses Küsschen auf den Mund geworden. Dem Vernehmen nach auf Anweisung des Aufnahmeleiters. Nicht dass der homophobe Diktator Lukaschenko am Ende noch auf die Idee kommt, der ESC könnte eine Veranstaltung sein, bei dem Homosexuelle erwünscht sind.
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