Anne Will markiert das Wochenthema. Das Ziel, mit ihrer Themenstellung die Woche zu prägen, hat Anne Will unbedingt erreicht. "Rendite statt Respekt" plus einem fragenden Anhang hieß es in der ersten Sendung. "Kapital ohne Gewissen" legte Maybritt Illner nach, bot allerdings keine Ensemble-Leistung, sondern ein imposantes Solo. Über "Angst vor Absturz" sinnierten die "Menschen bei Maischberger".
Alle Themen waren also hinreichend konkret, um eine diffuse Angst so auszudrücken, dass da genügend Platz ist für ein paar konkrete Beispiele. Sie waren andererseits so allgemein gehalten, dass auch zum Sinnieren ausreichend Platz blieb für den straffen Konzernherren ebenso wie für die konziliante Geistliche. Dreiworttitel mit erläuterndem Anhang haben sich durchgesetzt. Die früheren Leser der Suhrkamp-Taschenbücher ("Ideologie und Empirie"; "Mensch und Geschichte"; "Kritik der Gewalt"; "Probleme der Philosophie") beherrschen die Redaktionen. Fast schon könnte man von einer Themenstellung mit Stabreim und universeller Bandbreite sprechen. Und beim Moderieren dominiert unangefochten der Hosenanzug.
Dramaturgische Talk-Schwächen.
Vom Sofa her spricht der betroffene Bürger. In der ersten Sendung die Bau-Ingenieurin Kerstin Weser, die nun für einen Hungerlohn tapfer kilometerweit zum Call-Center pendelt und dies imposant und gerade emotional genug darzulegen weiß, um nicht ins Sentimentale abzukippen. Von da an schaut sie gut 55 Minuten lang großen Auges auf die Diskutanten. Aber als Bezugspunkt bleibt sie präsent. Kein Diskutant könnte sich Zynismen leisten oder gar kalt über dieses Schicksal hinwegschreiten. Allein: sie kommt nicht mehr zu Wort. Ein wenig wirkt es doch so, als sei der betroffene Bürger wieder einmal nur gut für die Ouvertüre, bis die erprobten Parteipolitiker dann wieder ihre gewohnten Arien schmettern dürfen.
Zur Person
Bernd Gäbler, geboren 1953 in Velbert/Rheinland, ist Publizist und Dozent für Journalistik. Er studierte Soziologie, Politologie, Geschichte und Pädagogik in Marburg. Bis 1997 arbeitete er beim WDR (u.a. "ZAK"), beim Hessischen Rundfunk ("Dienstags - das starke Stück der Woche"), bei VOX ("Sports-TV"), bei SAT.1 ("Schreinemakers live", "No Sports"), beim ARD-Presseclub und in der Fernseh-Chefredaktion des Hessischen Rundfunks. Bis zur Einstellung des Magazins leitete er das Medienressort der "Woche". Von 2001 bis Ende 2004 fungierte er als Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts in Marl.
Da hatte Sandra Maischberger mehr zu bieten, nicht nur die mit Abstand gemütlichsten Sitzmöbel. Nein, Ilka Bessin, inzwischen als "Cindy aus Marzahn" auf den Comedy-Bühnen reüssierend, konnte auf mindestens so bewegende Arbeitslosen-Erlebnisse zurückblicken wie die tapfere Call-Center-Telefonistin, aber: sie konnte auch mitreden, den Herren aus Wirtschaft und Sozialpolitik gehörig Paroli bieten.
Seit es mit der Quote klappt, geht es bei Sandra Maischberger etwas plaudernder zu und stets ist mindestens ein Gast zugegen, der die Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt schon überschritten hat. Kurt Biedenkopf, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Norbert Blüm, Hans-Jochen Vogel - solchen Gästen bietet sie einen wunderbaren Tummelplatz. Hier legen die weisen, alten Häuptlinge vom Stamm der Deutschen beratend ihre Stirn in Falten. Vom Berg der Erfahrung schauen sie herab, klein werden die tagespolitischen, gar parteipolitischen Querelen. Das ist nicht flott, gelegentlich mangelt es etwas an Dynamik - aber das hat was. Mindestens ein Alter sollte also in jeder Talk-Show dabei sein.
Talk-Besetzungsprobleme.
Telekom-Chef René Obermann war bei Anne Will dynamisch. Besetzt wurde er für die Rolle des eiskalten Sanierers. Am Ende traute er sich sogar, die so wohlig getrübte Stimmung mit Hinweis auf den Abbau der Arbeitslosigkeit aufhellen zu wollen. Soviel Chuzpe lag vielleicht auch daran, dass ihm nicht recht zugesetzt worden war. Das war bei Maybritt Illner anders: Josef Ackermann, unser Bankchef und Gehalts-Krösus wurde traktiert und triumphierte doch. Er ist einfach imposanter als der junge Obermann - wie ein gestandener Bass im Verhältnis zum aufstrebenden Helden-Tenor. Geduldig gab er den Deutschen eine Nachhilfestunde in großer Geschäftswelt. Da wehte der Atem der klugen Globalisierung. Das war "Kapital mit Wissen".
Für den spirituellen Überbau und den Hinweis, dass man "Arbeit" doch auf keinen Fall so eng materialistisch auslegen dürfe, war bei Anne Will Landesbischöfin Margot Käßmann zuständig. Sie ist immer schön klar und rollensicher, im Falle der Sozialpolitik wirkt sie aber stets etwas zu bieder sozialdemokratisch und - so ist es ja nun leider auch - überhaupt nicht katholisch. Etwas davon könnte man aber von einem Geistlichen verlangen.
Kurt Beck und Jürgen Rüttgers waren nun die Parteipolitiker einer am vernünftigen, fördernden und fordernden vor- und fürsorglichen Sozialstaat orientierten Volkspartei CSPDU. Sie stritten. Im Detail wurden die Unterschiede nicht klar - aber das ist vielleicht auch überflüssig. Das sollen sie mal unter sich ausmachen.
Die FDP kam in dieser Woche nur in der Zweiten Liga vor: Brüderle duellierte sich mit Herrn Poß (SPD) auf n-tv; Guido Westerwelle saß bei Phoenix "unter den Linden". Die Grünen waren ohnehin mit sich selbst beschäftigt. Beide erwiesen sich aber auch als entbehrlich.
Der ideale Talk.
So wie Goethe die Vielfalt der Pflanzen aus einer Urform abzuleiten versuchte, könnte es auf umgekehrtem Wege sinnvoll sein, aus der Talk-Vielfalt und Talk-Ähnlichkeit einer Woche eine Idealform zu destillieren. Das permanente Thema könnte heißen: "Aufschwung ohne Absturz - wie lange noch?" oder schlicht "Uns geht es gut - und mir?". Ein Abo als Betroffene hätte "Cindy aus Marzahn". Der erfahrene und in sich ruhende Sozialpolitiker Kurt Blüm (79) würde mit dem klugen Sanierer der deutschen Tele-Bank René Ackermann streiten und für den spirituellen Überbau sorgte die umstrittene katholische Landes-Kardinälin Margot Meissner. Das wäre doch eine prima Runde für die im grau-braun-beige-zimtfarbenen Hosenanzug moderierende Maysanne Maischwillner.