Text: Alard von Kittlitz, Nicole Zepter
1. Blick in den Spiegel
Du bist Bürger der Europäischen Union. Du bist mehr als nur: deutsch. Seit dem 1. November 1993, dem Tag, an dem in Maastricht die EU gegründet wurde, besitzt jeder Bürger der Bundesrepublik auch eine Unionsbürgerschaft. Du bist Europäer – ganz offiziell. Das merkst du, wenn du am Flughafen den Schildern mit der blauen EU-Flagge folgst, »EU Citizens« steht dann da. Sonst merkst du es nur selten, denn für dich sind die Privilegien Europas selbstverständlich.
Du genießt Reisefreiheit: steigst in den Flieger von Wien nach Barcelona und hast nichts dabei, außer deinem Personalausweis und ein paar Euro. Es gibt keine Visa-Formulare oder andere bürokratische Hürden, die du vor der Reise überwinden müsstest.
Du lebst auf einem Kontinent ohne Grenzen: Seit dem praktischen Inkrafttreten des Schengener Abkommens 1995 sind die Grenzen zwischen EU-Mitgliedsstaaten offen, deshalb kannst du von Warschau bis nach Lissabon fahren, ohne Grenzpolizisten und Schlagbäume zu sehen. Mehr als 3000 Kilometer! Du genießt Niederlassungsfreiheit und Freizügigkeit: Du kannst dich entscheiden, morgen nach London zu ziehen. Weil du dort studieren möchtest. Weil du dich verliebt hast. Oder weil dir das Wetter gefällt. Du kannst deinen Wohnort frei wählen.
Der europäische Traum
Du zahlst mit einer gemeinsamen europäischen Währung: Ökonomen loben die Preisstabilität und die geringeren Wechselkursrisiken des Euro. Das ist dir egal. Für dich zählt, dass du in neunzehn europäischen Ländern zahlen kannst, ohne in Wechselstuben herumzustehen oder gut im Kopfrechnen zu sein. Der Euro ist mehr als ein Zahlungsmittel. Es macht etwas mit Menschen, wenn sie das gleiche Geld in der Tasche haben. Eine Verbindung entsteht.
Du lebst europäische Werte: Demokratie, Menschenrechte, soziale Absicherungssysteme und die Freiheit, dich so entfalten zu können, wie du willst. Freue dich ab und zu darüber. Nenne es den europäischen Traum.
Du lebst in Frieden: Bis ins 20. Jahrhundert herrschte fast konstant Krieg in Europa. Dreißigjähriger Krieg, Erbefolgekriege, Weltkriege. Die Begriffe kennst du nur aus dem Geschichtsunterricht. Freu dich auch mal darüber. Deine Heimat ist größer geworden. Deine Freunde leben in Paris, London, Prag. Amsterdam liegt nicht mehr jenseits der deutsch-niederländischen Grenze, sondern ein paar Autostunden von Köln entfernt. Die Deutschen und die anderen sind sich nähergekommen. Frieden scheint selbstverständlich. Warst du nicht überrascht, als die EU den Friedensnobelpreis bekam? Der Preis war absolut verdient. Manchmal muss einem ein Außenstehender sagen, was für ein Wunder die EU doch ist.
2. In der Endloskrise
Es gibt die Europäische Union seit mehr als zwanzig Jahren. Das ist eigentlich nicht besonders lange. Aber lange genug, dass du manchmal das Gefühl hast, es hätte die EU immer schon gegeben. Und damit auch die Freiheiten, die du dank der EU genießt. Aber sie sind gefährdet.
Die Europäische Union steckt in einer Krise. Das weißt du, weil du seit Monaten – oder waren es Jahre? – keine Nachricht mehr über die EU gelesen, gesehen oder gehört hast, in der nicht Wörter wie »Krise«, »Katastrophe«, »Versagen« oder »Geburtsfehler« auftauchen. Genauer gesagt sieht sich die EU gleich mit mehreren Krisen konfrontiert, die sich überlagern und gegenseitig verstärken. Die Krisen sind nicht etwa gefährlich, weil die europäische Einigung sie ausgelöst hätte, sondern weil die EU noch immer keine Institutionen und keine Agenda hat, mit der sie die Herausforderungen des globalen Zeitalters gestalten könnte.
Streit unter den Mitgliedsstaaten
Denke zum Beispiel an die Flüchtlingskrise: In diesem Sommer sind Hunderttausende Opfer von Krieg und Armut nach Europa gekommen. Die Flüchtlinge reisen zwar beinahe ungehindert von Griechenland bis nach Gelsenkirchen, weil es innerhalb der EU keine Grenzen mehr gibt. Aber die fehlenden Stacheldrahtzäune sind ja nicht der Auslöser für das sogenannte »Flüchtlingsproblem«, das viele Kommentatoren als größte gesellschaftliche Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnen. Statt gemeinsam über eine europäische Außenpolitik zu beraten, die die »Failed States« in Afrika und die Bürgerkriege im Nahen Osten adressiert, streiten die europäischen Partner. Wut in Deutschland auf Ungarn, das Flüchtlinge misshandelt und einfach weiterschiebt, Wut in Ungarn auf Deutschland, das das Dubliner Abkommen temporär außer Kraft gesetzt und den syrischen Flüchtlingen so übertriebene Hoffnung gemacht hat. »Wir schaffen das«, sagt die Bundeskanzlerin. Aber man hat nicht das Gefühl, dass Europa in die gleiche Richtung geht. Stattdessen: Quotenstreit, gescheiterte Flüchtlingsgipfel, vertagte Verhandlungen.

Oder die scheinbar endlose Wirtschaftskrise. Der Euro zeigt sich seit 2008 als Fehlkonstruktion. Nicht, weil eine Gemeinschaftswährung im Allgemeinen eine schlechte Idee wäre. Sondern weil sie keine Lösung für die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen der Euro-Mitglieder bietet – noch! In den Nachrichten hörst du von Euroländern, die von Schuldenbergen erdrückt werden und unter horrender Jugendarbeitslosigkeit leiden. Du hörst, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren. Du hörst von sinkenden Wahlbeteiligungen und den radikalen Protestparteien, die gefährlich simple Antworten auf die komplexen Fragen der Gegenwart geben. Du hörst von Vlaams Belang, Dansk Folkeparti, Die Finnen, Front National, Goldene Morgenröte, Schwedendemokraten, AfD; wie Politiker und Menschenmassen auf dem ganzen Kontinent fordern: Fuck off, Brüssel!
Europaskepsis macht sich breit
Das EU-Kernland Großbritannien stellt bald seine Mitgliedschaft per Volksabstimmung infrage. Und bei der Europawahl 2014 wurden die europaskeptischen Parteien drittstärkste Kraft im EU-Parlament. Stärker als die Grünen. Die Bürger Europas haben so gewählt. Wenn aber Parteien wie der Front National oder die AfD immer mehr an Einfluss gewinnen, könnte sich eine gefährliche Eigendynamik entwickeln, die das europäische Integrationsprojekt nicht nur verlangsamt, sondern blockiert und womöglich auflöst. Bislang ging es immer vorwärts. Jetzt drohen Rückschritte. Möchtest du das? Du schaust gerade dabei zu, wie ein ökonomisch erfolgreiches, Völker verbindendes Unterfangen scheitert, das in der Menschheitsgeschichte einmalig ist.
Vielleicht denkst du: Die EU bekommt es nicht hin, eventuell sollte man das Projekt aufgeben. Aber das ist falsch. Die Europäische Union war nie nur eine pragmatische Interessengemeinschaft, sondern immer auch: eine Utopie. Die EU ist ein Traum, eine große Vision von Frieden und Solidarität, die Zukunft. Das ist dir zu naiv? Eine Vision ist zwangsläufig naiv; oder hätte es historische Wendepunkte wie den Mauerfall gegeben, wenn Menschen nicht ganz naiv auf eine bessere Zukunft gehofft hätten?
3. Angst ist auch keine Lösung
Du hast keine Angst vor Easyjet. Vor Barcelona, London, Kopenhagen. Du hast keine Angst vor Freiheit. Vor Menschen, die so leben, wie sie es für richtig halten. Vor Toleranz. Du hast keine Angst vor deinen Freunden aus Wien, Paris und Stockholm. Warum fürchten sich dann so viele junge Deutsche vor Europa? In einer großen NEON-Umfrage wünschten sich letztes Jahr 44 Prozent der 18- bis 35-jährigen Deutschen, dass die EU in Zukunft weniger Einfluss in Deutschland bekommen soll. Und immerhin dreißig Prozent der Befragten forderten, den Zuzug von EU-Bürgern nach Deutschland wieder zu beschränken. Man darf solche Sachen sagen und sich wünschen (herrscht ja Meinungsfreiheit in Europa). Es muss aber auch klar sein, dass diese Forderungen zeigen, dass viele Menschen die Niederlassungsfreiheit und andere europäischen Kernprinzipien ablehnen – und damit die EU als Ganzes.
Europa ist nicht perfekt, es gibt altbekannte Defizite: Die EU schafft es zum Beispiel nicht, den mehr als 500 Millionen Bürgern die große europäische Idee zu verkaufen. Statt Identifikationsfiguren zu sein, bleiben die Repräsentanten der EU lieber unsichtbar und verstecken sich im bürokratischen Dickicht.
Die EU nimmt die soziale Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten scheinbar hin. Es gibt keine ausreichenden Ausgleichsmechanismen zwischen den Ländern. Weil ein Land wie Griechenland schwächer ist als Deutschland, entstehen Schieflagen. Jeder Europäer, egal, wo er lebt, sollte die gleichen Chancen haben.
All das muss sich ändern. Keine Frage. Die viel entscheidendere Frage aber ist:
4. Was willst du?
Du bist Teil der europäischen Generation. Anders als deine Eltern bist du nicht in einem Staat aufgewachsen, sondern in einem Staatenbund. Du stehst für Toleranz, bist multikulturell. Willst du in einem Europa leben, das sich davon entfernt? Dir muss klar sein: Wenn du zulässt, dass Europa kaputtgeht, handelst du gegen deine Chancen, deinen Lebensstil, deine eigene Identität. Du wirst vielleicht Kinder haben, möchtest du, dass sie dir später vorwerfen, deine Generation habe eine historische Chance verspielt und zugelassen, dass das dunkle Zeitalter des Nationalismus zurückkehrt? Ausgrenzung, Abschottung, Egoismus?
Du musst dich jetzt entscheiden:
Für welche Werte stehst du?
Hast du Angst, dass irgendwann eine EU-Kanzlerin mit slawischem oder spanischem Namen auch über deine Belange entscheidet? Wäre das ein Problem? Glaubst du an Herkunft? Oder an Wahlen und Demokratie? Und wenn du Zweifel hast, dass Europa zu unterschiedlich ist, um zu einer politischen und sozialen Einheit zu werden, solltest du bedenken, dass Deutschland heute genauso funktioniert, wie ein europäischer Bundesstaat zukünftig funktionieren könnte: als Einheit von Ländern, die regionale Eigenheiten und Regierungen haben, aber durch Instrumente wie den Länderfinanzausgleich solidarisch sind und sich bei größeren Entscheidungen miteinander abstimmen.
Deutschland profitiert von der europäischen Einigung und dem EU-Binnenmarkt. Willst du den Wohlstand für dich alleine behalten. Oder bist du bereit zu teilen? Lautet die Antwort »Ja«, folgt daraus, dass sich die Währungsunion zu einer echten Fiskalunion entwickeln muss, die soziale Ungleichheiten durch Transferleistungen ausgleicht. Das ist die Lehre aus der Griechenland-Krise.
Europapolitik betrifft uns
Die Welt ist komplex und verändert sich täglich. Immer wieder tauchen neue Krisen auf. Es ist verständlich, Angst zu haben und sich hinter Zäunen abgrenzen zu wollen. Aber das hilft nicht weiter. Es braucht einen europäischen Flüchtlingsbeauftragten, der dafür sorgt, dass notleidenden Menschen geholfen wird. Es braucht eine europäische Außenpolitik, die sich dem Krieg in Syrien und dem Krieg in der Ukraine widmet. Die EU ist nicht das Problem, sondern die Lösung.
Du kannst nicht sagen, du hättest von nichts gewusst. Europapolitik ist eben nicht »weit weg«, sondern greifbar – sie betrifft deine Lebenswirklichkeit. Es kommt jetzt auf dich an. Schließt du dich der wachsenden Zahl von Menschen an, die »Nein« zu Europa sagen, oder glaubst du an den europäischen Traum? Um das Europa-Projekt zu retten, musst du nicht Verfassungsrecht studieren und ein europäisches Grundgesetz formulieren, auf das sich wirklich alle Mitgliedsstaaten einigen können. Es reicht, wenn du all die Fakten und Fragen aus diesem Text im Kopf hast, wenn du das nächste Mal wählen gehst. Wenn du NGOs und andere Institutionen unterstützt, die für Offenheit, Freiheit, Internationalität stehen. Und: Du beeinflusst mit deinen Aussagen, deiner Meinung, deiner Haltung deine Freunde und Familie. Überlege dir, zu welcher Stimmung du beitragen willst. Du hast die Wahl.

Die Krise ist eine Chance
Die aktuelle Flüchtlingskrise ist eine Chance für die EU. Nicht bloß ökonomisch, weil der alternde Kontinent dringend Zuwanderung braucht. Die Krise beweist, dass die Welt ohne Europa schlechter dastehen würde. Ein vereintes Europa ist eine Friedensmacht, die ihren außenpolitischen Einfluss nutzen muss. Ein Ort, der Menschen Hoffnung macht. Eine Idee, die nicht nur nach innen, sondern auch nach außen friedensstiftend wirkt.
Bist du dabei?
Die Krise ist da. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU steht infrage, ob wir »mehr Europa« wollen. Wenn jetzt nichts getan wird, starten Zerfallsprozesse, die schwer zu stoppen sind. Du entscheidest, in welchem Europa wir alle später leben werden.
Was verbindet Europa?
Das Fotoprojekt »Sea Change« schickt 13 Fotografen auf die Suche nach Verbindungen von Europas Jugendlichen. Der preisgekrönte britische Fotograf Jocelyn Bain Hogg, Initiator der Fotoserie, spricht im Interview über Europas Krise, britische Besonderheiten und Fotografie als Form der Umweltbeobachtung.Ein Fotoband stellt das Projekt vor.
Dieser Text ist in der Ausgabe 11/15 von NEON erschienen. Hier können Einzelhefte nachbestellt werden. NEON gibt es auch als eMagazine für iOS & Android. Auf Blendle könnt ihr die Artikel außerdem einzeln kaufen.