Zu ihrem zwölften Geburtstag hatte sich Thomas von Thenens Tochter Cora eine Party im Spaßbad gewünscht – mit Wildwasserrutsche und Abenteuerspielplatz. Am Ende musste sie sich doch mit einem Besuch im einfachen Hallenbad ihrer Heimatstadt Rheinberg am Niederrhein zufriedengeben. "Da gibt es nur zwei Bahnen", bedauert ihr Vater: "Aber im Spaßbad kostet allein schon der Eintritt zwölf Euro. Das ist nicht drin."
Der 40-Jährige ist seit 2014 erfolglos auf Jobsuche und lebt von Hartz IV. Monatlich stehen ihm nur etwas mehr als 1000 Euro zur Verfügung – die Miete ist da noch gar nicht abgerechnet. Das wirkt sich auch auf das Leben seiner Tochter aus. "Wahrscheinlich gibt es wenige Kinder in dem Alter, die nur zwei Euro Taschengeld bekommen." Gerne würde von Thenen ihr mehr bieten, doch der finanzielle Spielraum dafür ist nicht vorhanden. "Es ist schrecklich, dass das in einem Industrieland wie Deutschland möglich ist", klagt er im Gespräch mit dem stern.
Kinderarmut: In Deutschland sind über vier Millionen Kinder betroffen
Ab 969 Euro Monatseinkommen gilt ein Ein-Personen-Haushalt als armutsgefährdet, bei einem Kind unter 14 Jahren – wie im Fall von Thomas von Thenen und seiner Tochter – schon bei 1260 Euro. Für drei Millionen Kinder zahlt der Staat Sozialleistungen, die Dunkelziffer liegt aber wohl deutlich höher. Nach Berechnungen des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) leben deutschlandweit 4,4 Millionen Kinder in Armut. Der Unterschied ergibt sich daraus, dass viele Betroffene Leistungen nicht in Anspruch nehmen, zu denen sie eigentlich berechtigt wären. "Oft liegt es daran, dass die Eltern mit den bürokratischen Abläufen überfordert sind oder sich schlichtweg dafür schämen", erklärt DKSB-Präsident Heinz Hilgers.
Dagegen wendet sich am 11. Mai – einen Tag vor Muttertag – eine Demonstration in Berlin. Unter dem Motto "Es reicht für uns alle" rufen die Organisatoren dazu auf, für eine bessere finanzielle Ausstattung von Familien auf die Straße zu gehen. Sie fordern unter anderem bezahlbaren Wohnraum, ein faires Steuergesetz für Alleinerziehende und eine Kindergrundsicherung. "Kinder dürfen in Deutschland nicht in Armut aufwachsen", heißt es in dem Aufruf. "Bei Kinderarmut denkt man an Bangladesch oder Mali", sagte Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag und Sprecher des Netzwerks gegen Kinderarmut, dem stern. "Die Tatsache, dass in unserem reichen Land Kinder arm leben müssen, ist einer der größten Skandale in unserem Land." In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, aber auch in Städten wie Düsseldorf oder Berlin, gilt das für jedes vierte Kind.
Kinderbetreuung als großes Problem für Alleinerziehende
Betroffen sind nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vor allem Familien mit Alleinerziehenden – und hier vor allem Mütter. Viele von ihnen sind arbeitslos, weil sie keine Stelle finden oder wegen ihrer Kinder keiner geregelten Arbeit nachgehen können. Wenn der Vater den Unterhalt verweigert, wird es finanziell noch knapper. Doch selbst alleinerziehende Mütter, die arbeiten, rangieren oft noch unterhalb der Armutgrenze. Und mit ihnen ihre Kinder, die es danach auch als Erwachsene oft nicht schaffen, der Armutsfalle zu entkommen. Die Probleme sind vielfältig, die Geschichten auch.
Bei Thomas von Thenen beispielsweise steht und fällt alles mit der Betreuung seiner Tochter. Seit Jahren findet er keine Ganztagsbetreuung für Cora, besonders die Randzeiten am Morgen und am Abend sind ein Problem. Und so kommt es, dass der gut ausgebildete Fachkaufmann für Einkauf und Logistik, der seine Weiterbildung als Jahrgangsbester abgeschlossen hat, seit Jahren keine Arbeitsstelle findet: "Die meisten Chefs sagen mir: 'Sie sind alleinerziehend, ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann.'" Teilzeitstellen werden ihm in seiner Branche nicht angeboten, außerdem wird die Bereitschaft zum Schichtdienst vorausgesetzt.
"Starke-Familien-Gesetz" – oder "Starke-Bürokratie-Gesetz"?
Das Thema hat auch die Politik erreicht. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hat soeben ihr sogenanntes "Starke-Familien-Gesetz" durch den Bundesrat gebracht, mit dem Kinder und einkommensschwache Familien bessergestellt werden sollen. Laut Giffey sollen zwei Millionen der insgesamt 13 Millionen Kinder in Deutschland davon profitieren: Der Kinderzuschlag wird erhöht, zum Schulstart gibt es nun 150 statt 100 Euro, Alleinerziehende sollen stärker unterstützt werden. Auch Oppositionspolitiker und das Kinderhilfswerk loben das Gesetz als wichtigen Schritt in die richtige Richtung – dennoch gibt es Kritik.
Der Weg zu den Leistungen sei zu kompliziert, damit dürften viele Familien weiterhin davon ausgeschlossen bleiben. Heinz Hilgers vom Kinderschutzbund nennt den Vorstoß ein "Starke-Bürokratie-Gesetz". Das Deutsche Kinderhilfswerk kritisierte: "Das Gesetz schafft für Familien mit geringem Einkommen einige Entlastungen, eine umfassende Priorisierung der Förderung armer Familien und ihrer Kinder sowie unbürokratische Zugänge zu den Leistungen bleiben allerdings nach wie vor auf der Strecke." Auch Linken-Politiker Bartsch sieht weiterhin "dringenden Handlungsbedarf" und fordert eine Grundsicherung, die sich nicht an den Eltern, sondern an den Kindern orientiert: "Entscheidend ist, dass das Geld ankommt. Jedes Kind in Armut ist ein Kind zu viel."
Um die Demo in Berlin zu finanzieren, sammeln die Organisatoren Spenden auf GoFundMe.
Quellen: Deutsches Kinderhilfswerk / DPA / Bundeszentrale für politische Bildung / Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag / Deutscher Kinderschutzbund
