Ein warmer Abend im vergangenen Juli. Evelyne Baustert joggt durch den Mainzer Stadtteil Gonsenheim. Wie üblich zieht die pensionierte Erzieherin ihre Runde um den Spielplatz des katholischen Kindergartens, auf dem um diese Zeit kein Kind mehr spielt. Umso mehr wundert sie sich über zwei nackte Kinderfüße, die aus einem Spielhäuschen ragen. Als sie nachschaut, entdeckt sie ein schlafendes Mädchen, zusammengekauert, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, mit zahlreichen Blutergüssen im Gesicht und an den Händen. Die Erzieherin ruft die Polizei.
Keine Körperstelle ohne Verletzung
Die Beamten finden schnell heraus, um wen es sich bei dem Kind handelt. Am Tag zuvor hatte ein Ehepaar aus einer rheinhessischen Kleinstadt seine Nichte Tuul* als vermisst gemeldet. Gerhard H., 43, und seine aus der Mongolei stammende Frau Tungalag L., 36, hatten die Polizisten vorsorglich auf Verletzungen des Mädchens hingewiesen. Diese stammten "von Stürzen beim Training", versicherte das Ehepaar, das sich in Artistenkreisen als Trainer für die so genannte Kontorsion einen Namen gemacht hatte. Tuul werde von ihnen zum "Schlangenmädchen" ausgebildet. Sanitäter brachten das Kind in die Mainzer Universitätsklinik. "Es gab praktisch keine Körperstelle ohne Verletzung", sagt Professor Felix Schier, Leiter der Kinderchirurgie. Stutzig machten ihn und seine Kollegen Hämatome hinter den Ohren und Striemen im Nacken. Außerdem entdeckten die Mediziner "Doppelkonturen, die typisch sind für Stockschläge". Schiers Fazit: "Uns war schnell klar, dass es sich nicht um Sportverletzungen handeln konnte." Ebenso, dass dieses Kind keine 17 Jahre alt war, wie in seinem Pass stand, sondern höchstens 13. Das Mädchen ließ die Untersuchungen "wie versteinert" über sich ergehen. Es wandte sich ab und schwieg auf alle Fragen der Ärzte.
Das änderte sich, als eine Kripobeamtin tags darauf eine mongolische Studentin als Dolmetscherin mitbrachte. "Tuul stand wohl noch unter Schock", erinnert sich Sarangua B., "sie hat geweint und sehr leise gesprochen, ich musste ganz nahe an sie herantreten, sonst hätte ich sie nicht verstanden. "Nur wenige Brocken Deutsch konnte das Mädchen sprechen, darunter das Wort Bambusstock."
Tante Tungalag war eine Berühmtheit
Tuul stammt aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Der Vater ist Streifenpolizist, die Familie besaß wenig, sie lebte im Armenviertel, in einem Zelt mit offener Feuerstelle. Die Eltern waren glücklich, als die Tochter eine Einladung der Tante aus Deutschland bekam. "Sie hofften, mit dem Mädchen Geld zu verdienen", so die Übersetzerin.
Tante Tungalag lebte schon seit den neunziger Jahren als Artistin in Deutschland. "Tungalag", das bedeutet so viel wie "rein und klar wie Wasser". Die Mongolin hatte eine Ausnahmekarriere als Schlangenmädchen gemacht. Mit acht Jahren stand sie zum ersten Mal auf der Bühne, mit zehn feierten sie Tausende im Zirkus von Ulan Bator. Auftritte in China, Korea, Japan und Dubai folgten, begleitet von ihrer acht Jahre älteren Schwester.
1989 durfte sie nach Europa reisen. In den Folgejahren sah man das Duo bei André Heller in Wien, im Schweizer Staatszirkus Knie, beim Winterweihnachtszirkus in Berlin und in der Show "Menschen, Tiere, Sensationen". Fünf Jahre später lernte die geschmeidige Tungalag Gerhard H. kennen, einen braven deutschen Beamten aus der Pfalz, der sich privat als Komiker und Journalist Abwechslung von seinem Job verschaffte. Er schrieb kleine Texte für Zirkusblättchen und interviewte Tungalag nach einem Auftritt in Wiesbaden. Sie hielten Kontakt, telefonierten, er schickte ihr Musikkassetten, schließlich verliebten sie sich. 1999 heirateten sie und bezogen in der rheinhessischen Provinz ein Haus. Gerhard H. wurde der Manager der Schwestern, die als "erfolgreichstes Schlangenmädchen-Duo der Welt" auch von großen Unternehmen für Veranstaltungen gebucht wurden.
Ausbildung zum Schlangenmädchen in Asien begehrt
Mit wachsender Nachfrage wurde der Bedarf für neue Talente größer, vor allem, nachdem die ältere Schwester in die Mongolei zurückgekehrt war. Ab 2005 trat Tungalag, inzwischen 34, nicht mehr auf, zumal sie etwas füllig geworden war, und widmete sich ausschließlich der Ausbildung des Nachwuchses. Die Ausbildung zur Kontorsionistin - von lateinisch contortio: das Drehen, das Winden - ist bei jungen Menschen in ostasiatischen Ländern wie China oder der Mongolei äußerst begehrt. "Sie gelten als versorgt, dürfen ins Ausland reisen, ernten Ruhm und Ehre", sagt der Jongleur und Artistentrainer Volker-Maria Maier aus Berlin. Das Training beginne schon im Alter von vier Jahren und sei knallhart. "Die Mädchen werden den ganzen Tag gedehnt, bis nichts mehr geht."
Tuul kommt nach Deutschland
Tungalag L. holte die Nichte Tuul im November 2006 vom Leipziger Flughafen ab und brachte sie in ihr Haus. Tuul reiste offiziell als Künstlerin ein, ihr Pass und die Arbeitserlaubnis waren auf ihre 17-jährige Schwester ausgestellt. Als 13-Jährige hätte das Mädchen keine Arbeitsgenehmigung bekommen. In ihrer neuen Heimat sollte sie sich mit vier weiteren Mädchen aus der Mongolei auf das Training konzentrieren. "Am Anfang lief alles gut", berichtete sie der Dolmetscherin. "Tante und Onkel waren sehr nett zu mir und kauften mir Kleider." Tuul lebte in einem Einfamilienhaus mit großem Garten, abgeschottet von der Außenwelt. Sie besuchte keine Schule, durfte allenfalls in den Garten oder mit der Tante und den älteren Mädchen einkaufen gehen.
Die Leidensgeschichte beginnt
Bald stellte sich jedoch heraus, dass ihr Körper für extreme Dehnungen nicht geeignet war und ihr das Talent fehlte. Die Tante zeigte sich ungehalten. Termine für Auftritte standen an, doch Tuul schaffte die vorgeschriebenen Figuren nicht. Tuul versuchte die Tante zu beschwichtigen, entschuldigte sich. "Ich war sehr schlecht", sagt sie noch heute über sich. Im April 2007 habe die Tante das erste mal zugeschlagen. Zunächst mit der Hand, dann mit der Faust, später mit einem Bambusstock. Mit der Spitze habe sie ihr die Haut aufgeritzt, ihr in Hüfte und Bauch gestochen und geschrien: "Du schuldest mir so viel Geld, das kannst du im ganzen Leben nicht bezahlen." Von 20.000 Dollar sei die Rede gewesen.
Staatsanwalt spricht von Körperverletzung und Freiheitsberaubung
Ehemann H., der als Müllsheriff in einer nahe gelegenen Kommunalverwaltung Umweltfrevlern in Wald und Flur nachspürte, musste erkennen, welches Drama sich zu Hause anbahnte. Er konnte die blauen Flecke und Schürfwunden nicht übersehen, die die Wutausbrüche seiner Frau bei dem Kind hinterließen. Doch er bremste sie nicht. Im Gegenteil. Aus "fehlgeleiteter Liebe zu seiner Frau," so sein Anwalt Claus Henkel, habe er sie walten lassen und - "auf ihre Aufforderung hin" - sogar selbst auf das Kind eingeschlagen. Mit der Hand, mit einem Schuh, mit dem Bambusstock.
15 Fälle von gefährlicher Körperverletzung wirft der Staatsanwalt dem Ehepaar vor, außerdem mehrmalige Freiheitsberaubung. Die Tante, so der Vorwurf, schloss das Kind in sein Zimmer ein, fesselte es ans Bett, hängte es einmal gar wie ein Schlachttier an einem Haken auf. Seine Frau sei "völlig verzweifelt" und "am Rande eines Nervenzusammenbruchs" gewesen, erklärte Gerhard H. seinem Anwalt. Sie habe sich unter Druck gefühlt, weil Auftritte bevorstanden. Tungalag L. soll auch andere Mädchen geschlagen haben, die sie trainierte. Aber ganz besonders hatte sie es offenbar auf die zierliche Tuul abgesehen, ein hübsches Mädchen mit dunklen Mandelaugen und Pferdeschwanz. Doch für ihre Tante war sie faul und renitent, eine Fehlinvestition.
Schikanen werden immer brutaler
Als Tuul wegen ihrer Verletzungen kaum noch trainieren konnte, suchte die frustrierte Tante andere Gründe, um sie zu schikanieren. Sie habe ihr vorgeworfen, viel im Haushalt kaputt zu machen, Tuul berichtete von finsteren Drohungen: "Ich kann dich an einen Ort bringen, wo niemand ist, und dich umbringen. Keiner würde nach dir fragen. Ich kann deine Organe verkaufen, dann bekomme ich wenigstens etwas von dem Geld wieder, das du gekostet hast."
Schläge, so rechtfertigt sich Tungalag L., gehörten in ihrer Heimat zur normalen Ausbildung von jungen Artisten, auch sie selbst sei als Kind geprügelt worden, erzählte sie ihrem Anwalt Franz Josef Scholl. Eine Behauptung, die ihr Landsmann und Kollege Gombo Odgerel so nicht bestätigen kann. "Natürlich gibt es einzelne Fälle", sagt der 37-jährige Kontorsionstrainer in Ulan Bator, "aber diese Trainer riskieren, dass die Kinder sie anzeigen." Und dass sie ihr "Kapital" zerstören.
Rätsel um die Motive für die Misshandlungen
Warum schlug L. blindwütig zu? Spielte Eifersucht auf die hübschen jungen Konkurrentinnen eine Rolle? Vor allem aber: Warum half ein bis dahin unbescholtener und allseits geachteter Beamter bei der monatelangen Kinderquälerei? In seiner Behörde gilt H. als beliebter Kollege, der sogar in den Personalrat gewählt wurde. Privat schien der behäbige Gerhard ein Pantoffelheld zu sein, der es nicht wagte, sich dem Zorn seiner Frau entgegenzustellen. Sein Anwalt spricht von einem "Abhängigkeitsverhältnis", räumt aber ein, dass sein Mandant auch ihm "keine wirklich befriedigende Erklärung" liefern kann.
Tuul gelingt die Flucht
Am Dienstag, 10. Juli, hatte Tuul mal wieder eine Tracht Prügel bezogen. Am nächsten Tag erwartete die Tante zu Hause Geschäftsbesuch. Tuul sollte sich in ihrem Zimmer verstecken, damit der Gast ihr verbeultes Gesicht nicht sehen konnte. Die Dreizehnjährige verließ es trotzdem. Als der Geschäftspartner gegangen war, sei die Tante ausgerastet. Sie habe ihr die Hände auf den Rücken gebunden, einen Strick um den Hals gelegt, die Knie bis zum Kinn hoch gezerrt und sie verprügelt. Danach gingen die Tante und ihr Mann im Obergeschoß zu Bett. Stundenlang lag Tuul, verschnürt wie ein Paket, auf dem Fußboden im Erdgeschoss. Von den anderen Mädchen war keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil: Die Älteste, eine 27-jährige Mongolin, habe selbst manchmal zugeschlagen, zu den anderen Mädchen hatte die 13-Jährige kaum Kontakt.
Tuul wartete, bis alle schliefen, zerrte an den Stricken, bis es ihr gelang, die Fesseln zu lösen. Sie habe "große Angst gehabt, dass die Tante wach wird", berichtete sie der Dolmetscherin. Auf Zehenspitzen schlich sie sich aus dem Haus, barfuss und im Trainingsanzug, rannte in der Dunkelheit über Felder und Straßen, lief die ganze Nacht und den folgenden Tag, ohne jemandem aufzufallen. Tuul wusste nicht, wohin. Das Land war ihr fremd. Sie hatte nichts zu essen, nichts zu trinken, schaffte es aber 20 Kilometer weit bis nach Gonsenheim, wo sie sich auf dem Spielplatz ausruhte und von der Erzieherin entdeckt wurde.
Späte Reue des Onkels
Gerhard H. bekannte wenige Tage nach seiner Festnahme, dass ihm die Misshandlungen "sehr leid tun", betont Anwalt Henkel. Er habe gestanden, damit das Mädchen geschont wird. "Sie soll nicht noch mal vor Gericht aussagen müssen."
Tuul lebt jetzt in einem Kinderheim. Trotz ihrer schlechten Erfahrungen will sie in Deutschland bleiben. "Sie ist ein liebes Mädchen, sie ist schlau und sie hat einen starken Willen", sagt die Übersetzerin. Willensstärke wird sie auch in Zukunft brauchen. Denn ob die inzwischen 14-Jährige im Land bleiben darf, ist noch offen. Darüber entscheidet nicht der Richter, sondern die Ausländerbehörde. Und die gehört, Ironie des Schicksals, zur selben Behörde, bei der auch Gerhard H. arbeitete.
*Name des Kindes geändert