Polyglotte Erziehung Sprachen lernen - die Welt verstehen

Ob Ärztin, Ingenieur oder Parfümerieverkäuferin: Kaum einer kommt noch ohne Fremdsprachen durchs Leben. Immer mehr Deutsche möchten ihren Horizont erweitern und polyglott werden. Und ihren Kindern frühzeitig globale Perspektiven eröffnen. Moderne Methoden bahnen den Weg.
Von Astrid Viciano

Als Sonia Ladet 18 Jahre alt war, nahm sie sich vor, alle Sprachen dieser Welt zu lernen. Sie wollte sich überall wohlfühlen, eintauchen in jede Kultur. Bald verhandelte sie mit den Händlern eines marokkanischen Basars auf Arabisch, übersetzte ihrem amerikanischen Freund Gedichte von Joseph von Eichendorff ins Englische. Später lernte sie Japanisch, um die fernöstliche Mentalität für ihren Beruf als Trendforscherin besser zu verstehen. Und Russisch, das hätte sie beinahe vergessen, hat die Pariserin in der Schule gelernt.

Entwicklung

Kleinkinder sind wahre Sprachtalente. Ihre Entwicklung verläuft rasend schnell.

- Im Alter von zwei Monaten können Babys bereits unterschiedliche Phonemlängen (ba versus baaaa) unterscheiden, und sie beginnen zu lallen, zu gurren und zu quietschen.
- Mit fünf Monaten können Babys bei Wörtern unterschiedliche Betonungen unterscheiden.
- Mit sechs Monaten geben sie erste Silbenketten von sich ("dadada").
- Mit neun Monaten kann das Baby einzelne Doppelsilben formen ("Mama").

Wie ein Jongleur, der mit der Zeit immer mehr Bälle in die Luft werfen kann, katapultierte Sonia Ladet immer neue Sprachen in ihr Leben. Die Tochter einer Deutschen und eines Chinesen wuchs in Paris mit drei Muttersprachen auf und möchte das Erbe heute an ihre Kinder weitergeben. Derzeit sucht die 39-Jährige einen Kung-Fu-Lehrer für den siebenjährigen Theo-Paul. Der soll Chinesisch mit dem Jungen reden, während sie mit ihm Deutsch und ihr Mann mit ihm Französisch spricht. "Das ist ein Geschenk für die Kinder", sagt sie. Und steht damit nicht allein.

Weit verbreitete Notwendigkeit

Ähnlich wie Sonia Ladet wollen immer mehr Eltern ihren Nachwuchs früh mit fremden Sprachen in Kontakt bringen. Und ähnlich wie die Pariserin lernen auch viele Erwachsene erneut Vokabeln und Grammatik, oft nach jahrzehntelanger Abstinenz. Denn die Welt hat sich verändert: Wer heute nur Deutsch versteht, kann den größten Teil des Internets nicht nutzen. Als Arzt oder Ingenieur kann er die wichtigsten Fachartikel und Bücher nicht lesen, steht auf vielen Konferenzen im Abseits. Als Mitarbeiter eines internationalen Konzerns versteht er womöglich nicht einmal die Rundmails seiner eigenen Vorstände, ist bei Arbeitstreffen aus dem Rennen. Ob in der Modebranche, im Finanzwesen, in den Medien, in Gastronomie, Großoder Einzelhandel - überall wird die Fähigkeit zum interkulturellen Austausch vorausgesetzt, müssen Mitarbeiter nachrüsten. Dem Programmierer Sebastian Fuchs knallte sein Ausbilder eines Tages ein englisches Informatikhandbuch auf den Tisch und sagte: "Lernen!" Heute ist der 32-Jährige dankbar für den Anschub: "Ich maile und blogge jeden Tag mit Experten in Amerika und England, entwickele Webseiten für internationale Kunden. Ohne die Sprache käme ich überhaupt nicht voran."

Mathias Wittig, Quality-Manager bei Airbus, musste sich für den Job eine dritte Sprache aneignen. Wenn er zu Konferenzen ins Werk nach Toulouse fuhr, kam er mit seinem Englisch nicht wirklich weiter, von Deutsch ganz zu schweigen. "Der Workshopleiter begrüßte uns auf Englisch, aber nach zehn Minuten - man konnte die Uhr danach stellen - fiel ihm ein Wort nicht ein, "Außenhaut" zum Beispiel. Das sagte er dann auf Französisch und wechselte kurz darauf komplett die Sprache, bis man ihn bat, wieder Englisch zu sprechen - für die nächsten zehn Minuten. Ich habe schließlich angefangen, Französisch zu lernen." In Sekretariaten, am Bankschalter oder in Parfümerien wird sprachliche Flexibilität erwartet. "Natürlich muss ich den Kunden auf Englisch erklären können, was der Unterschied zwischen einer Lotion und einem Soft-Tonic ist", sagt etwa Doreen Schimanski, Auszubildende bei Douglas auf der Berliner Friedrichstraße.

Und auch Politiker haben die Zeichen der Zeit erkannt. Kurz nach der Jahrtausendwende kündigten die EU-Staats- und Regierungschefs an, die dünne Sprachengrundlage ihrer damals 380 Millionen Bürger kräftig aufzupäppeln. Alle Europäer, so lautet das Ziel, sollen sich von Kindesbeinen an in drei Sprachen verständigen können.

Der Kommissar für Mehrsprachigkeit bei der Europäischen Kommission versprach vor zwei Monaten, künftig noch stärker für die Vorteile der Sprachenvielfalt zu werben. Noch nämlich beherrschen 44 Prozent der Unionsbürger keine Fremdsprache so, dass sie sich gut darin unterhalten könnten. Glück hat, wer in den Grenzregionen lebt: wie etwa Kehl, einer kleinen Stadt in der Nähe von Straßburg, auf der deutschen Rheinseite. "Wir sind ein buntes, zweisprachiges Volk", sagt der Internist Hans-Jürgen Vogel, der dort mit seiner französischen Frau und den beiden Kindern lebt. Die Freunde der Familie sind fast alle zweisprachig, der Vater arbeitet an einer deutschen Klinik, die Mutter als Krankenschwester an einer Schule in Frankreich. Der Sohn geht in die deutschfranzösische Schule und die Tochter in den deutsch-französischen Kindergarten. Zum Abendessen gehen die Eltern gern in französische Restaurants, bevorzugen jedoch deutsche Handwerker, wenn es am Haus etwas zu reparieren gibt. "Wir picken uns das Beste aus beiden Kulturen heraus", sagt der Vater.

Werden die Kinder nicht überfordert?

Allerdings konnte Hans-Jürgen Vogel das Sprachgemisch nicht immer so unbeschwert genießen wie heute. Früher fürchtete er manchmal, dass die Kleinen sich vielleicht zu langsam entwickeln, dass sie in beiden Sprachen weniger kompetent sein würden als einsprachige Kinder. Eine Sorge, die tief in den Köpfen vieler Landsleute verankert ist - unnötigerweise, wie schon ein Blick in fremde Kulturen zeigt. In weiten Teilen Asiens und Afrikas beherrschen die Menschen viele verschiedene Sprachen, allein in Nigeria werden mehr als 400 im Alltag verwendet: die Amtssprache Englisch, heimische Handelssprachen, die Sprache aus dem Nachbardorf, jene der Familie. Ohne Tamtam parlieren die Einwohner je nach Situation auf die eine oder die andere Weise. "Unser Gehirn ist dafür angelegt, mehrere Sprachen zu lernen. Wir unterfordern Kinder, wenn wir ihnen diese Chance nicht bieten", sagt Jürgen Meisel, Sprachwissenschaftler an der Universität Hamburg. Das gilt vor allem für die ersten Lebensjahre, denn zu dieser Zeit nehmen Kinder Sprache mühelos auf. Unabhängig von Intelligenz oder Sprachbegabung.

Immer besser verstehen Forscher, in welchen Phasen der Mensch das Verstehen und Sprechen auf welche Weise lernt. Ihre Erkenntnisse bestätigen Eltern, die auf frühe Mehrsprachigkeit setzen: So besitzen Kinder bis etwa zum Alter von drei oder vier Jahren die Fähigkeit, ganz mühelos in Sprachen hineinzuwachsen. Ab dem vierten Jahr aber können sie manche Verben in einer zweiten Sprache nicht mehr sofort korrekt beugen. Im Alter von acht bis zehn Jahren schließlich ist eine große Phase der Entwicklung abgeschlossen - ausgerechnet, wenn Schüler traditionsgemäß mit dem Erwerb ihrer ersten Fremdsprache beginnen: "Von diesem Zeitpunkt an lernen Kinder eine Sprache nicht mehr intuitiv, sondern müssen sie sich ähnlich wie Erwachsene erarbeiten", sagt der Hamburger Philologe.

Das Wachstum der Worte

- Ab zwölf Monaten werden Laute erstmals bestimmten Dingen zugeordnet ("Wauwau").
- Mit 18 Monaten folgt die Wortschatzexplosion: Zwei-Wort-Sätze, erste Fragen, die Sätze werden länger.
- Nach 24 Monaten zeigen Kleinkinder erste Reaktionen, wenn Sätze inkorrekt aufgebaut sind, die Reaktion ist vermutlich mit 32 Monaten voll ausgebildet.

Das weiß Alexander Wilms nur zu gut. Der Mathematiker erinnert sich ungern an das Pauken der englischen Grammatik in der Schulzeit. "Ich bin kein großes Sprachtalent", gesteht er. Über die Kultur fand er dennoch seinen Zugang zur Sprache: Den ersten Urlaub mit seiner Frau verbrachte Wilms im Königreich, später studierte er fast ein Jahr im englischen Coventry. "Die Begeisterung für das Land hat uns wie ein Virus befallen", sagt Wilms. Er beschloss, mit seinen Töchtern nur Englisch zu reden, Spiele, CDs und Kinderfilme nur in der Weltsprache anzuschaffen. Wilms selbst lernt mit - und weiterhin dazu. Zum Beispiel muss er wissen, was Eiche oder Fichte auf Englisch heißt, wenn er mit den Töchtern im Wald spazieren geht, muss die unterschiedlichen Formen der Blätter erklären können. Inzwischen ist er kaum noch von einem Muttersprachler zu unterscheiden. Nur manchmal kommt es noch vor, dass ihm eine Vokabel fehlt. "Daddy, das musst du im Wörterbuch nachsehen", mahnt dann die ältere Tochter auf Englisch.

Oft fällt es Eltern schwer, so fest an den Erfolg ihrer Sprachenmission zu glauben. Wenn die Kleinen nicht in der zweiten Sprache zu reden beginnen, wenn sich die Sprachentwicklung verzögert oder die Kinder die Sprache ablehnen, weil sie etwa im Kindergarten nicht auffallen wollen. Eine deutsche Linguistin berichtet sogar von einem Jungen, der sich weigerte, mit seiner Mutter Englisch zu reden. Da sie als Einzige in der Umgebung Englisch sprach, war er überzeugt, dass nur Frauen die Sprache verwenden. "Eltern müssen viel Geduld haben", sagt Conxita Lleó, Projektleiterin im Sonderforschungsbereich Mehrsprachigkeit der Universität Hamburg.

Nicht beunruhigen lassen

Haben einsprachige Kinder im Alter von 18 Monaten einen Wortschatz von 50 Wörtern, dann haben mehrsprachige den auch - allerdings auf die verschiedenen Muttersprachen verteilt. In jeder einzelnen Sprache können sie sich im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen vielleicht nicht so gut ausdrücken. "Davon sollten sich Eltern nicht irritieren lassen, das holen die Kinder auf ", beruhigt Lleó. Die Spanierin hat sogar beobachtet, dass Zweisprachigkeit die Sprachentwicklung beschleunigen kann. Kinder, die neben Spanisch auch mit Deutsch aufwuchsen, konnten Endkonsonanten früher richtig aussprechen als monolinguale spanische Kinder. Im Deutschen enden mehr Wörter auf Konsonanten, im Spanischen mehr auf einen Vokal, so heißt "Obst" oder "Frucht" im Spanischen "fruta".

Vom Brabbeln bis zum ersten Reim

- Mit drei Jahren setzt das zweite Fragealter ein ("wie?", "warum?").
- Mit vier Jahren beherrschen Kinder die grammatikalischen Grundlagen.
- Mit sechs Jahren können Kinder reimen und Wörter in Silben zerlegen.

Vertrauen die Eltern auf die Kapazität ihrer Sprösslinge, geben sie ihnen einen großen Schatz für ihr weiteres Leben mit auf den Weg. Nicht nur die Beherrschung von zwei oder mehr Sprachen zählt dazu; das frühe Hirntraining bringt vermutlich noch weiteren Profit. So beobachtete der Psychologe Albert Costa von der Universität Barcelona bei zweisprachigen Kindern eine höhere Aufnahmefähigkeit und stellte fest, dass sie Wichtiges von Unwichtigem besser unterscheiden konnten. Schon früher hatte er gesehen, dass sich bilingual aufgewachsene Menschen im Lärm eines Großraumbüros besser konzentrieren können als einsprachige. Auch die Pariserin Sonia Ladet hat nie Probleme, ihre herumtobenden Söhne auszublenden, wenn sie dringend arbeiten muss. "Vielleicht ist mein Gehirn darauf trainiert, ständig zwischen den Sprachen umzuschalten und sich dann voll auf die aktive Sprache zu konzentrieren", überlegt sie.

Wie hat es Sonia Ladet geschafft, ihre Muttersprachen so mühelos aufzunehmen? Warum schließen sich bei den meisten spätestens mit zehn Jahren die Türen zum intuitiven Spracherwerb? Das kindliche Gehirn, so beschreiben es Wissenschaftler gern, gleicht zunächst einem Teig, der sich leicht formen lässt. Später wird es dann zunehmend steifer. Nervenzellen, die beim Lernen der Muttersprache aktiv sind, verweigern offensichtlich später bei den Fremdsprachen die Mitarbeit. Andere Hirnbereiche müssen dann aushelfen, so dachten Forscher lange Zeit.

Manche halten die strikte Trennung der Sprachzentren inzwischen aber für überholt. Sie glauben, dass auch Spätlerner das Hirnareal der Muttersprache anzapfen und nutzen können. "Je besser jemand eine Fremdsprache spricht, umso mehr aktiviert sein Gehirn die Bereiche der Muttersprache", sagt Frédéric Isel, Neurowissenschaftler am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Das macht Hoffnung auf lustvolleres Lernen.

Denn der Weg zur späten Mehrsprachigkeit schien lange Zeit mit eiserner Disziplin verbunden: Die Schüler paukten Vokabeln, übten Grammatikregeln und übersetzten Texte in die Muttersprache. "Damals ging es vor allem um die Schriftsprache, zum Beispiel Romane von Balzac auf Französisch zu lesen", sagt Gerhard von der Handt vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn. Heute dagegen gelte Sprache vor allem als Mittel zum Zweck, um in unserer globalisierten Welt kommunizieren zu können. Es ist dabei nicht zwingend, Perfektion zu erlangen, und für viele ist das auch nicht das Ziel. Sie brauchen Grundkenntnisse, um mit Menschen anderer Kulturkreise und Muttersprachen in Kontakt oder ins Geschäft zu kommen: Sprache baut Brücken.

Kommunikation statt Klassikerlektüre

Torge Thies, 42, Geschäftsführer einer PR-Agentur, konstruiert sie auf Chinesisch: "Je nachdem, in welcher Tonhöhe man die Silben ausspricht, heißt "Ma" Mutter, Hanf oder Pferd", sagt er. "Um eine Zeitung lesen zu können, müsste ich 5000 Schriftzeichen kennen. Meine Agentur produziert ein chinesisches Wirtschaftsmagazin, und natürlich ist das ein Ansporn, die Sprache zu lernen. Ich klappe oft die Lehrbücher auf, aber ehrlich: Selbst wenn ich es schaffe, eine Frage zu stellen, ich würde niemals die chinesische Antwort verstehen. Bei Businessessen ist es dennoch der Eisbrecher, wenn man statt ,Guten Appetit‘ sagt: ,Man man chi.‘ Für meine chinesischen Schwiegereltern in spe habe ich mir auch eine Redewendung überlegt. ,Sie haben eine schöne Tochter‘, kann ich schon sagen." Kommunikation statt Klassikerlektüre.

Die Lernmethoden, unter denen Interessierte auswählen können, haben sich geändert: Gute Lehrer lassen ihre Schüler selbst entscheiden, ob sie eher vom Sprechen, Hören oder Lesen profitieren und setzen entsprechend individuelle Schwerpunkte. Statt Frontalunterricht abzuhalten, bilden sie Kleingruppen, in denen sich die Schüler unterhalten können. Die Basis des Erfolgs ist nach neuester Erkenntnis aber nicht die Größe der Gruppe oder die Qualität der Lehrmittel. Es ist die Motivation. Wer weiß, wofür er lernt, lernt besser. Mancher Jugendliche brennt vor Eifer, weil er sich vorgenommen hat, endlich die Texte seiner Lieblingsbands zu verstehen. Andere treibt die Lust auf Filme im Originalton, die Aussicht auf einen Kongress, bei dem sie gut aussehen wollen, auf einen Auslandsaufenthalt. Oder sogar das Feuer der Emotion: Verliebt sich jemand in eine Italienerin, wird ihm das Italienische leicht über die Lippen kommen. "Entscheidend ist, warum jemand eine Sprache lernen will", sagt von der Handt.

Auch jenseits der großen Ziele ist Motivation das Zauberwort: Es erfordert gewaltige Disziplin, sich einmal in der Woche allein an den Küchentisch zu setzen und Vokabeln zu lernen. Mit einem Gegenüber ist die Freude deutlich größer - vor allem, wenn es um Themen geht, die man spannend findet. "Ganz wesentlich ist die interessierte Interaktion", sagt Erwachsenenbildner von der Handt. Der klassische Sprachkurs bekommt so neue Bestätigung, aber auch modernere Lernformen wie der interaktive Unterricht übers Internet oder das Lernen mit einem sogenannten Tandempartner halten Sprachinteressierte bei der Stange.

Wichtiger Faktor Selbstständigkeit

Am Landesspracheninstitut der Uni Bochum sind die Segnungen hoher Motivation besonders gut zu besichtigen. Hier bereiten sich vor allem Ingenieure, aber auch Mediziner und Juristen, Journalisten und Studenten auf einen nahen Aufenthalt in China, in Japan, in Russland, Korea, im Iran oder in arabischen Ländern vor. Da ist etwa das junge Paar aus der Nähe von Wuppertal, das einen Tag nach Ende des Chinesisch-Grundkurses nach Shanghai fliegen wird - um dort mindestens zwei Jahre zu leben. Nein, Sprachenlernen liege ihnen eigentlich gar nicht, sagt der Ingenieur. Und doch schlagen sich die beiden im Unterricht hervorragend. Wer weiß noch, was Kellner auf Chinesisch heißt? Wer kennt den Ausdruck für schwimmen gehen? Das Pärchen hat fast immer die Antwort parat. Sie sind beide hochmotiviert, möchten selbstständig zurechtkommen in der neuen Wahlheimat. Innerhalb von drei Wochen lernen die Schüler 60 Prozent der chinesischen Grammatik, erfahren aber auch, wie sie im Alltag ein Hotelzimmer reservieren, ein Restaurant finden, mit einem Taxi zum Ziel gelangen können.

Es ist Freitag, Viertel nach neun, 15 Minuten Pause, die drei Chinesischlehrer eilen zum nächsten Klassenzimmer. Nach jeder Stunde rotieren die Lehrer zwischen den drei Parallelkursen, und sobald sie im Klassenzimmer angekommen sind, laufen sie rastlos vor den Reihen der Schüler umher. Ein Bild von einem Hotel in Peking hängt die Lehrerin an die Tafel, eine Zeichnung mit einem Kellner an der Bar, gelbe, graue, grüne Karten mit neuen Wörtern. Die Schüler lernen, dass ein Flugzeug wörtlich "fliegende Maschine" heißt und dass sie den Satz "Bitte, einen Kuss" nicht mit "Bitte, eine Frage" verwechseln sollten. Sie lesen in ihren Unterlagen oder sprechen mit geschlossenen Augen nach, was die Lehrerin sagt. "Jeder Lerntyp soll im Unterricht angesprochen werden", sagt Institutsleiter Jochen Pleines.

Auch wenn es den rein visuellen Lerntyp ebenso wenig gibt wie jenen, der nur beim Hören lernt oder beim Kommunizieren - manche Erwachsene profitieren eher vom Lesen, andere mehr von Rollenspielen. "Was ihnen weiterhilft, können Sprachschüler meist selbst gut beurteilen", hat Karin Kleppin, wissenschaftliche Leiterin des Zentrums für Fremdsprachenausbildung der Ruhr-Universität Bochum beobachtet. Die Romanistin bietet eine Sprachlernberatung für ihre Studenten an, lässt sie Fragebögen zu ihren Lerngewohnheiten ausfüllen und rät zu mindestens drei Beratungsterminen, bei denen dann die maßgeschneiderte Mischung verschiedener Lernstrategien erstellt wird. Bundesweit sollen künftig strenge Qualitätsstandards für das Sprachcoaching gelten. So wurde auf einer Tagung in Bochum vor Kurzem zu diesem Zweck ein Verein gegründet. Sprachschüler sollen kompetent beraten werden, welche Methode sie zum Erfolg führen kann - je nach Vorkenntnissen, Lernerfahrung und persönlichen Zielen.

Manche setzen sich gern mit einem Lehrbuch oder einer Lernsoftware zu Hause an den Schreibtisch, um die Grundlagen der neuen Sprache zu pauken, andere gehen lieber zu einem Kurs an der Volkshochschule. "Keines von beidem genügt, um eine Sprache wirklich zu lernen", sagt Kleppin. Die Schüler müssten sich immer wieder Situationen schaffen, in denen sie die Sprache nutzen.

Verbindungen herstellen

Sonia Ladet hört gern russische Lieder des Sängers Bulat Okudschawa, diskutiert im amerikanischen Forum "Real Clear Politics" über die Wahlen in den USA oder befragt Japanerinnen für ihren Job als Trendforscherin, was Schönheit für sie bedeutet. "So geht das Sprachenlernen ganz leicht", sagt die Pariserin.

Sie hat sich beim Englischen viele Vokabeln aus dem Deutschen und Französischen hergeleitet, beim Japanischen einen Teil der Schriftzeichen bereits verstanden, weil sie aus dem Chinesischen stammen. Je mehr Sprachen jemand spricht, desto leichter fällt es ihm offensichtlich, die nächste zu lernen. Einsprachig Aufgewachsene dagegen nehmen die erste Fremdsprache als Brücke, über die sie später weitere Sprachen aufnehmen, vermuten Sprachwissenschaftler.

Eine innovative Lernstrategie will diese Brücke nutzen, um Kenntnisse in verschiedenen Idiomen einer gemeinsamen Sprachfamilie gleichzeitg zu entwickeln. Schüler, die bereits Englisch können, werden im Unterricht zum Beispiel mit sechs germanischen Sprachen gleichzeitig konfrontiert. Sie lesen eine Geschichte über Pippi Langstrumpf parallel auf Dänisch, Friesisch und Isländisch sowie Niederländisch, Norwegisch und Schwedisch. Die an der Universität Frankfurt entwickelte Methode hat vor allem zum Ziel, den Schülern das Lesen in den verschiedenen Sprachen zu erleichtern. Sie analysieren die Texte, suchen Ähnlichkeiten zum Englischen wie zum Beispiel das schwedische "hus" und das englische "house", achten auf die Satzstellung und die Verben, schütteln jeden Satz durch sieben Sprachsiebe, bis sie sich den gesamten Text Stück für Stück erschlossen haben. "Wie Detektive suchen sie nach Spuren, die sie zum Ziel führen", sagt Britta Hufeisen, Leiterin des Eurocom-Projekts für germanische Sprachen an der Technischen Universität Darmstadt.

Daran hat es Sonia Ladet und ihren Kindern nie gefehlt. "Eine neue Sprache macht uns keine Angst", sagt die Pariserin. Der ältere Sohn lernt inzwischen die chinesischen Schriftzeichen. An diesem Nachmittag ist eine Künstlerin zu Besuch, die den Pinsel an der Hand des Jungen führt, bis mit schwungvollen Strichen "Ich liebe China" auf dem Pergamentpapier steht. Wenig beeindruckt beginnt Theo-Paul auf dem Sofa herumzuturnen. Nein, schwer sei das überhaupt nicht, behauptet der Siebenjährige. Er schreibe sogar lieber auf Chinesisch als auf Französisch, "weil es viel leichter ist". Das kann wohl nur einem mehrsprachigen Kind einfallen.

Mitarbeit: Janina Behrens, Carola Hoffmeister, Tanja Meoser und Andin Tegen

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