US-Abtreibungsgesetze "Roe vs. Wade" – der Präzedenzfall, den Abtreibungsgegner in den USA zu Fall gebracht haben

Norma McCorvey alias Jane Roe 1989
Norma McCorvey (li.), die als "Jane Roe" in die US-Justizgeschichte einging, 1989 mit ihrer Anwältin Gloria Allred vor dem Supreme-Court-Gebäude in Washington.
© J. Scott Applewhite / Picture Alliance
Seit Jahren tobt in den USA ein erbitterter Kampf gegen das Recht auf Abtreibung. Etliche konservative Bundesstaaten sind mit eigenen restriktiven Gesetzen vorgeprescht. Nun sind sie am Ziel: Der Supreme Court hat "Roe vs. Wade" gekippt. Was damit gemeint ist.

Terri Collins, Abgeordnete im Repräsentantenhaus von Alabama, machte keinen Hehl aus der Sache. "Bei diesem Gesetz geht es eigentlich um 'Roe vs. Wade'", stellte sie fest. Die Republikanerin brachte mit diesen Worten ein neues, strenges Abtreibungsgesetz in den Kongress des südlichen Bundesstaates ein. Das war 2019 auf dem Höhepunkt einer Reihe von äußerst restriktiven Gesetzen zum Schwangerschaftsabbruch, die der geltenden Rechtssprechung in den USA allesamt widersprachen. Weitere republikanisch regierte Bundesstaaten folgten mit ebenso strengen Gesetzen. Die Absicht war klar: Das Thema sollte wieder auf die Tagesordnung des Supreme Courts gebracht werden. Dort wurde am 22. Januar 1973 der Präzedenzfall "Roe vs. Wade" mit 7 zu 2 Stimmen entschieden. Darauf fußte fast 50 Jahre lang die US-Rechtsprechung zur Abtreibung. Bis heute. Die Gegner eines liberalen Abtreibungsrechts haben obsiegt; der Supreme Court hat "Roe vs. Wade" gekippt.

Der Fall war unter der in der amerikanischen Rechtstradition üblichen Bezeichnung in die Geschichte eingegangen. Klägerin war die 22-jährige, in Texas lebende Norma McCorvey, die zur Wahrung ihrer Anonymität in den Akten Jane Roe genannt wird – in Anlehnung an den englischen Platzhalternamen John Doe. Gegner war für den Staat Texas der damalige Bezirksstaatsanwalt von Dallas, Henry Wade.

Abtreibung im Texas der frühen 1970er verboten

Der Fall nahm seinen Lauf, als die weitgehend mittellose McCorvey, die schon zwei Kinder zur Adoption freigegeben hatte, 1969 ein drittes Mal schwanger wurde. Freunde rieten ihr zu behaupten, sie sei vergewaltigt worden, da nur unter diesen Umständen eine legale Abtreibung in Texas möglich war. Ansonsten waren Schwangerschaftsabbrüche in dem Bundesstaat gesetzlich verboten. Da Norma McCorvey keine Beweise für eine Vergewaltigung beibringen konnte, scheiterte ihr Vorhaben. Schließlich gab sie zu, den sexuellen Missbrauch aufgrund ihrer Notsituation vorgetäuscht zu haben. Der Versuch, illegal abtreiben zu lassen, scheiterte daran, dass eine Klinik, die Abtreibungen vornahm, von den Behörden geschlossen worden war.

Schließlich wurde Norma an die beiden Rechtsanwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington vermittelt. Die beiden Juristinnen suchten seinerzeit nach Frauen, die bereit waren, mit ihnen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA durchzufechten. Eigentlich, so hieß es, wollten sie keine Klientin, deren Motiv wirtschaftliche Not war, doch mangels Alternativen entschieden sie sich für Norma McCorvey alias Jane Roe. Diese fungierte 1970 als Klägerin. Es dauerte drei Jahre, ehe der Fall nach etlichen Verhandlungen vor dem Supreme Court landete.

Abtreibung als "Teil der Privatsphäre"

Das höchste US-Gericht unter Führung des Obersten Richters Warren E. Burger widersprach der Auffassung von Coffee und Weddington, dass Frauen ein absolutes Recht auf Abtreibung zu jeder Zeit und auf jede Weise hätten. Allerdings versuchte das Gericht, das Recht einer Frau auf Privatsphäre und Garantien des 14. Verfassungszusatzes ("... kein Staat darf irgend jemandem ohne ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen ...") in Einklang zu bringen mit dem staatlichen Interesse an der Regulierung von Abtreibungen, die Missbrauch vorbeugen soll.

Laut der Auffassung des seinerzeit mehrheitlich liberal geprägten Supreme Courts verletzten die meisten damaligen Gesetze in den Bundesstaaten und im Bund zur Abtreibung sowohl das Recht auf Privatsphäre der Frau als auch die garantierte Rechtssicherheit gemäß des 14. Verfassungszusatzes. Daraus folgend entschied das Gericht, dass eine Schwangere ihre Schwangerschaft bis zu jenem Zeitpunkt beenden darf, ab dem ein Fötus lebensfähig wird – seinerzeit ab der 28., heute ab der 24. Schwangerschaftswoche. Der Staat darf jenseits dieses Zeitpunkts Abtreibungen verbieten – allerdings mit der Einschränkung, dass spätere Abbrüche, wenn sie zum Erhalt der Gesundheit oder des Lebens der Frau notwendig sind, erlaubt sein müssen. Regulieren darf der Staat das Verfahren eines Schwangerschaftsabbruchs bereits nach dem dritten Monat, aber nur soweit dies für den Erhalt der Gesundheit der schwangeren Frau notwendig ist.

"Roe vs. Wade" blieb höchst umstritten

"Roe vs. Wade" blieb in den folgenden Jahrzehnten eine der in der US-Gesellschaft umstrittensten Entscheidungen des Supreme Courts. Seit 1974 findet alljährlich zum Jahrestag der Entscheidung aus Protest dagegen der "March for Life" in der Hauptstadt Washington statt – mit hunderttausenden Teilnehmern. Auch in anderen US-Städten gibt es ähnlich Märsche, darunter auch in den eher als liberal geltenden Chicago und San Francisco. Immer wieder wurde der Richterspruch juristisch angegangen, so vor allem 1992 im Fall "Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania vs. Casey". Damals bestätigte der Court jedoch seine Entscheidung im Grundsatz. Allerdings erklärten die Richter Vorschriften des Staates, die keine unzumutbare Belastung für die Frau darstellten, als rechtens. Dazu gehörten beispielsweise eine obligatorische Beratung der Schwangeren sowie eine ausreichende Bedenkzeit vor dem Abbruch von mindestens 24 Stunden.

Die Entscheidung von 1973 vollständig zu kippen, blieb eine der wichtigsten Forderungen der Lebensrechtsbewegung in den USA, die von konservativen und christlich-fundamentalistischen Politikern, Aktivisten und Organisationen getragen wird. In der in den letzten Jahren anhaltenden Welle von Abtreibungsgesetzen in etlichen Bundesstaaten sahen Beobachter seit geraumer Zeit einen konzertierten Versuch, das Abtreibungsthema vor den Supreme Court zu bringen. Spätestens seit der Vereidigung von Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett – beide konservative Juristen, und beide Kandidaten von US-Präsident Donald Trump – wurde damit gerechnet, dass das oberste US-Gericht "Roe vs. Wade" tatsächlich kippen könnte, da das Richtergremium seither ein deutlich konservatives Übergewicht hat. Dieser Fall ist nun eingetreten.

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© dpa
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"Jane Roe" hat nie abgetrieben

Norma McCorvey nahm seinerzeit übrigens an keiner einzigen Verhandlung "ihres" Falls teil. Sie brachte ein drittes Kind zur Welt und gab es wie ihre beiden anderen Kinder zur Adoption frei. 30 Jahre nach dem Grundsatzurteil des Supreme Courts versuchte sie erfolglos, von sich aus den Richterspruch zu kippen. Nach ihrer Zuwendung zum Christentum erklärte McCorvey 1998 öffentlich, dass sie Abtreibungen ablehne. Sie verfasste jeweils mit einem Co-Autoren zwei Bücher zu "ihrem Fall". Außerdem wurde "Roe vs. Wade" 1989 ohne ihre Beteiligung verfilmt (deutscher Titel: "Eine Frau klagt an"). Am 18. Februar 2017 starb Norma McCorvey alias Jane Roe im Alter von 69 Jahren an einem Herzinfarkt.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals im Mai 2019 und wurde anlässlich der jüngsten Supreme-Court-Entscheidung durchgängig aktualisiert.

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