Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan die Provinzhauptstadt Kundus im Norden des Landes eingenommen. Die Stadt sei am Sonntag nach heftigen Kämpfen gefallen, bestätigten drei Provinzräte sowie ein Bewohner gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. In Deutschland ist Kundus vor allem bekannt, weil die Bundeswehr jahrelang in der Nähe ein großes Feldlager hatte. Erst kurz zuvor hatten die Islamisten auch die Stadt Sar-i Pul erobern können.
Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen vier Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan Anfang Mai laufen mehrere Offensiven der Taliban. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum massive Gebietsgewinne verzeichnen. Sie kontrollieren mittlerweile mehr als die Hälfte der rund 400 Bezirke des Landes und auch mehrere Grenzübergänge. Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen.
Regierungsvertreter flohen aus Kundus
Kundus wurde seit langem von Taliban-Kämpfern belagert. In den vergangenen zwei Tagen hätten die Islamisten ihre Angriffe intensiviert, sagten die Provinzräte. Abgesehen von einer Militärbasis rund drei Kilometer vom Stadtzentrum und dem Flughafen kontrollierten die Taliban nun die ganze Stadt. Dorthin seien Regierungsvertreter geflüchtet. Die Menschen in der Stadt hätten weder Wasser noch Essen. Sie hielten sich in ihren Häusern versteckt.
Die afghanischen Truppen starteten nach Angaben des Verteidigungsministeriums eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kundus. "Einige Gebiete, darunter jene mit den Gebäuden des nationalen Radios und Fernsehens, wurden von den terroristischen Taliban geräumt", hieß es in einer Mitteilung. Die Stadt befinde sich im "totalen Chaos", berichtete ein Einwohner der Nachrichtenagentur AFP.
Kundus mit seinen etwa 370.000 Einwohnern hat auch für die Bundeswehr, die Ende Juni nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abgezogen war, große Bedeutung. Hier lieferten sich deutsche Soldaten stundenlange Gefechte mit den Taliban. Nirgendwo in Afghanistan fielen mehr Deutsche als in Kundus und der Nachbarprovinz Baghlan. Im Vorjahr waren im "Camp Pamir" noch etwa 100 deutsche Soldaten stationiert.
Den Krieg im Kopf

Mit ihren Freundinnen ist Muschtari (gelber Schal) auf dem Weg zu einem Picknick. Sie wurde gerade aus dem Krankenhaus entlassen. Muschtari wird von Schmerzattacken heimgesucht, die keine klare körperliche Ursache haben, und hat immer wieder psychotische Phasen, in denen sie um sich schlägt und versucht, sich zu verletzen. Die Ärzte vermuten ein Trauma als Ursache. Doch was genau ihr passiert ist, will Muschtari nicht sagen.
In den Fokus rückte Kundus im September 2009, als dort bei einem vom deutschen Oberst Georg Klein veranlassten Nato-Luftangriff dutzende Zivilisten getötet wurden. Hintergrund war die Kaperung zweier Tanklaster durch Taliban-Kämpfer nahe dem deutschen Feldlager. Klein befürchtete, dass die Tanklaster als rollende Bomben gegen das Feldlager eingesetzt werden könnten.
Taliban auch in anderen Regionen Afghanistans auf dem Vormarsch
Auf Anforderung der Bundeswehr griffen US-Kampfflugzeuge die Tanklaster an. In deren Umkreis hielten sich jedoch zahlreiche Zivilisten auf. Wie viele Menschen bei dem Bombardement genau getötet wurden, ist bis heute ungeklärt. Offiziell ist von 91 Toten und elf Verletzten die Rede; unabhängige Zählungen gehen von 142 Toten aus.
2010 kam es am Karfreitag in Kundus zu heftigen Gefechten zwischen Bundeswehr und Taliban, bei denen drei deutsche Soldaten getötet wurden. Drei Jahre später wurde das deutsche Feldlager an die afghanischen Streitkräfte übergeben, die rund 900 dort stationierten Bundeswehr-Soldaten zogen ab.
Die Lage in der Stadt Sar-i Pul mit geschätzt 180.000 Einwohnern ähnelt der in Kundus. Provinzräten zufolge haben die Islamisten seit Sonntagmorgen (Ortszeit) die wichtigsten Regierungsgebäude unter ihrer Kontrolle. Die Sicherheitskräfte hätten sich in der Nacht schwere Gefechte mit ihnen geliefert. Als allerdings der zweite Polizeibezirk fiel, hätten sie ihre Posten verlassen und sich in eine Militärbasis einen Kilometer vom Stadtzentrum zurückgezogen. Auch Regierungsvertreter befänden sich nun in dieser Militärbasis. Die Taliban feuerten Mörsergranaten auf sie.
Der Provinzrätin Massuma Schadab zufolge liegen mehrere Leichen in den Straßen. Es traue sich aber niemand, diese zu bergen. Die Provinz, in der Ölvorkommen gefördert werden, grenzt unter anderem im Osten an die Provinzen Balch mit der Hauptstadt Masar-i-Scharif und im Norden an die Provinz Dschausdschan. Die Regierung halte in der Provinz nur noch den Bezirk Balchab, sagten die Provinzräte weiter.
USA unterstützen mit Luftangriffen
Am Freitag war schon die kleine Provinzhauptstadt Sarandsch in Nimrus an der iranischen Grenze praktisch kampflos an die Taliban gefallen. Einen Tag später folgte die Stadt Schiberghan in Dschausdschan im Norden, Machtsitz des umstrittenen ehemaligen Kriegsfürsten und Ex-Vizepräsidenten Abdul Raschid Dostum, eine führende Anti-Taliban-Figur.

Nach Angaben des afghanischen Verteidigungsministeriums fliegen die USA, die ihren Abzug aus Afghanistan praktisch abgeschlossen haben, weiter Luftangriffe in dem Land. Ein Taliban-Treffen in der Stadt Schiberghan sei mit B-52-Bombern angegriffen worden, teilte ein Sprecher mit. Die US-Militärmission in Afghanistan endet am 31. August. Der Abzug ist amerikanischen Angaben zufolge zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen.
Das Auswärtige Amtes sieht indes eine zunehmende Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan. Nach der Übernahme von Kundus durch die Taliban sagte ein Ministeriumssprecher am Sonntag auf Anfrage der DPA, die Situation entwickle sich rasant. Bereits in der Vergangenheit sei der so genannte Asyllagebericht aktualisiert worden, falls dies erforderlich war. "Auch mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen wird derzeit eine Aktualisierung des Asyllageberichts vorbereitet."
Der Asyllagebericht dient als Hilfe bei der Entscheidung in Asylverfahren und bei Abschiebungen. Die Bundesregierung hatte zuletzt deutlich gemacht, dass für sie ein genereller Abschiebestopp für Menschen aus Afghanistan derzeit nicht infrage kommt.
Der aktuelle Asyllagebericht des Auswärtigen Amts stellt zwar eine stärkere Gefährdung bestimmter Gruppen durch den Vormarsch der Taliban fest, aber keine generelle Gefährdung von Rückkehrern. Er bildet allerdings den Stand im vergangenen Mai ab – also kurz vor dem Beginn des Abzug der ausländischen Truppen.