Kabul, im Oktober: Mit britischen Soldaten unterwegs auf Patrouille in einem Elendsviertel. Schwer bewaffnet, aber nicht nervös, ziehen 15 Soldaten durch die engen Gassen, ausgerüstet mit Störsendern gegen ferngezündete Mienen (haben die Bundeswehr-Patrouillen nicht)und stabilen Manschetten mit Drehspindel zum Abbinden von Gliedmaßen nach Schusswunden (haben die Deutschen auch nicht dabei). Commander Doug Fischer nennt vor Abmarsch das Wort, das einem in Afghanistan immer wieder begegnen wird: "Bleibt in the bubble, zwischen dem ersten und letzten Soldaten!"
Die "bubble", die Blase, bietet Sicherheit. Sie begegnet einem wieder in den gigantischen Lagern der unter dem ISAF-Mandat versammelten NATO-Truppen in Afghanistan: quadratkilometergroße Kunststädte, in denen tausende Soldaten leben, von denen meist mehr als die Hälfte während ihrer mehrmonatigen Dienstzeit nicht einmal das Lager verlassen, die alle paar Monate rotieren und deren Offiziere in flotten Power Point-Präsentationen ihre Wunschwelt vorführen: dass es gelte, die "Herzen und Hirne" der Afghanen zu gewinnen, Straßen, Schulen und Krankenhäuser zu bauen und die Taliban zu bekämpfen. Seit jene sich nicht mehr - wie noch 2006 - in offenen Schlachten den überlegenen westlichen Truppen stellten, seien sie auf der Verliererspur.
Unübersichtlich wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges
Die Wirklichkeit sieht anders aus, aber das bekommen die Truppen kaum mit in ihrer "bubble". Afghanistan ist in etwa so unübersichtlich wie Deutschland zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, ethnisch und konfessionell zerrissen, gelähmt durch Macht zahlloser großer und kleiner Warlords, von denen viele nach außen hin mit den westlichen Truppen kooperieren, nach innen aber ihre Gewaltherrschaft mit ihren Milizen stützen. Daneben, dazwischen agieren verschiedene Taliban-Flügel, die ebenfalls nach außen hin geschlossen auftreten, aber intern oft uneins sind und unterschiedliche Ziele verfolgen: Jene, die vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt werden, sind an Destruktion und am Sturz Karzais interessiert, andere wollen lokale Macht und Verhandlungen.
Und so, wie die Ausländer sich "ihr" Afghanistan nach Willen und Vorstellung zurechtdeuten, leben auch die meisten Afghanen in einer Welt, deren Wahrnehmung von radikalen Mullahs, Gerüchten, Verschwörungstheorien bestimmt wird. In einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Menschen nicht lesen und schreiben kann, es überdies selten Strom gibt, ist das Kurbelradio des Dorfältesten oft der einzige Kontakt zu Informationen jenseits von Gerüchten. Und woher soll Bauer Habibullah xy in seinem Dorf wissen, ob die schwerbewaffneten Fremden nicht doch Afghanistan auf Dauer besetzen und den Islam bekämpfen wollen?
Recht und Sicherheit, egal von wem
Was die meisten Afghanen erleben, sind eine korrupte Regierung, Wegegeld erpressende Polizisten, sind echte Nachrichten und übertriebene Gerüchte von US-Soldaten, die Dörfer bombardieren und Zivilisten erschießen. Das ist die eine Seite. Die andere sind Taliban, die ihnen Schutz vor plündernden Polizisten versprechen, aber ihre Söhne mitnehmen wollen, die ihrerseits Dorfälteste umbringen. Fragt man Afghanen, was sie wollen, so kommt oft dieselbe Antwort: Recht und Sicherheit. Egal, von wem. Sie wollen nicht mehr der Willkür selbsternannter Milizführer ausgeliefert sein. Dafür braucht es in der Tat bewaffneter Truppen, die behutsam das Gewaltmonopol auch durchsetzen können. Insofern sind das ISAF-Mandat und die Präsenz der Bundeswehr im Norden richtig.
Dafür bräuchte es aber mehr noch eine realistische Annahme, was wir in Afghanistan wollen, wie wir dies erreichen - und wie wir verhindern, das Gegenteil von dem zu bewirken, was wir öffentlich verkünden. Denn kaum einer der Interventionsmächte scheint es in erster Linie um Afghanistan zu gehen. Washingtons erste und lange Zeit einzige Priorität war es, Osama bin Laden und Taliban-Führer Mullah Omar zur Strecke zu bringen sowie, möglichst viele Taliban zu töten.
"ISAF darf nicht scheitern!"
Gemäß der Devise, die Feinde der eigenen Feinde zu Freunden zu erklären, holten die Amerikaner nach 2001 die meisten jener Warlords wieder ins Land und an die Macht, deren Schreckensregime im Bürgerkrieg den Aufstieg der Taliban erst ermöglicht hatte. Auf dem Petersberg 2001 und danach in Amt und Würden saßen Männer, die nicht minder vor ein Kriegsverbrechertribunal gehören als Mullah Omar. Bis heute betreiben die USA ihren separaten Militäreinsatz "Operation Enduring Freedom", der mit seiner oft maßlosen Gewalt vor allem im Süden Afghanistans viele in die Arme der Taliban getrieben hat.
Aber auch die anderen Staaten betreiben ihren Afghanistan-Einsatz (auch) mit anderen Zielen: von Ex-Verteidigungsminister Struck, der dem deutschen Volk mit der Angstkarte den Einsatz schmackhaft machen wollte und fabulierte, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt über den deutschen Offizier, der sich beim Gespräch mit britischen Kollegen in der Gartencafeteria des ISAF-Hauptquartiers in Kabul (dem einzig angenehmen Ort im Feldlager, angelegt von den Italienern) einig ist: "ISAF darf nicht scheitern! Wegen der NATO." Denn die wäre nach einem Debakel als funktionierendes Bündnis erledigt, "dann machen die Amis nur noch auf eigene Faust, was sie wollen!"
Jede ausländische Macht hat ihre eigene Agenda
Doch was bedeutet diese Einigkeit für Afghanistan? Dass die Bündnistreue letztlich höher wiegt als der Erfolg, dass die US-Maxime, im Zweifelsfall erst zu schießen und dann Brunnen zu bauen, fortgesetzt wird. Aber was soll der Erhalt der NATO die Afghanen interessieren? Jede in Afghanistan involvierte ausländische Macht hat ihre eigenen Agenda: Die US-Regierung verbietet sich, dort zu scheitern, weil man schließlich schon im Irak gescheitert sei. Die iranische Führung wiederum hat kein Interesse an einem beruhigten Afghanistan, solange die USA mit Angriff auf den Iran drohen. Pakistans sinistre Geheimdienstführung möchte Afghanistan weiterhin als Rückzugsareal nutzen, um im ewigen Kampf mit Indiens islamistischer Militante ins Spiel schicken zu können.
Aber solange Afghanistan nur das Spielfeld von Konflikten und Interessen bleibt, die mit dem Land selbst nichts zu tun haben, wird mit immensem Aufwand mal einiges, mal nichts, mal das Gegenteil vom dem erreicht, was erklärtes Ziel ist: Afghanistan zu stabilisieren. Dafür hätte man von Anfang an die Taliban oder deren Reste am Aufbau einer neuen Ordnung beteiligen müssen. Dafür müsste die US-Regierung unter Vizepräsident Dick Cheney und seinem offiziellen Vorgesetzten aufhören, auch noch den Iran angreifen zu wollen. Dafür müssten die Europäer mit nüchternem Blick begreifen, was sie tatsächlich in Afghanistan ausrichten können. Ein militärischer Sieg gegen die Taliban fällt nicht darunter.
Dann ist eine Fortsetzung des ISAF-Mandats sinnvoll. Klammert sich der Einsatz aber weiterhin an utopische Ziele und andere Interessen, ist die Gefahr groß, dass die große Allianz der ISAF-Entsenderstaaten in ein, zwei Jahren zerbröseln wird, die Soldaten nach Hause gehen und die Taliban als Sieger zurückkehren.