Am Tag nach der großen Konfusion waren die Blätter voll mit martialischen Schlagzeilen. Die "Daily Mail" titelte ziemlich treffend "Chaos reigns", Chaos regiert, die seriöse "Times" schrieb von einer "Brexit-Kernschmelze", und als sei das nicht alles schon übel genug, meldete sich zu allem Überfluss aus Washington auch noch US-Präsident Donald Trump zu Wort mit einem ausnahmsweise gar nicht mal so dummen Redebeitrag. Er sei überrascht darüber, wie schlecht die britische Premierministerin Theresa May den ganzen Brexit gehandhabt habe.
Auch Trump stand offenkundig noch ganz unter dem Eindruck eines selbst für britische Verhältnisse bizarren Tages. Am Mittwoch hatte das Parlament über mögliche No-Deal-Szenarien abgestimmt und einen ungeregelten Abschied kategorisch ausgeschlossen. Das führte im Unterhaus zu der hochgradig absurden Situation, dass die Regierung in schierer Panik gegen einen Zusatz abstimmen ließ, den sie zuvor selbst vorgelegt hatte. Daran hielten sich aber sehr zum Groll von May nicht mal alle Kabinettsmitglieder, und tags drauf schäumte May in Downing Street, zürnte erst über die Illoyalität und hernach darüber, dass Infos aus dem inner circle immer wieder an Zeitungen durchgestochen werden. Auch am Donnerstag wurden diese Risse im Kabinett offenkundig. Der für den Brexit zuständige Minister Steve Barclay argumentierte im Auftrag der Regierung zunächst für den Aufschub – und stimmte dann wie sieben weitere Minister dagegen. Wer da nicht mehr mitkommt, befindet sich in guter Gesellschaft mit zirka 60 Millionen Briten, die das, was hinter den Fassaden von Westminster geschieht, auch nicht mehr verstehen.
Klar ist, dass die Mehrheit der Abgeordneten einen Crash aus der EU definitiv ausschließen wollen, dafür votierten sie gleich zweimal. Und klar ist auch, dass sie der nicht nur gesundheitlich angeschlagenen Premierministerin mehr oder weniger die Macht entzogen haben. Nach quälenden Jahren ohne große Fortschritte kommt jetzt zumindest Bewegung in die Chose.
Wie reagiert Brüssel?
Die Signale aus Brüssel fielen eher verhalten aus. Ein EU-Beamter sprach, die Resultate aus London seien in etwa so, als würde die Titanic dafür plädieren, dass der Eisberg verschwindet. Es gebe nur zwei Wege, die Union zu verlassen: Mit einem Deal oder eben ohne. Und dass es nicht reiche, gegen einen No Deal zu stimmen, wenn es keine Alternative zu Mays Plänen gebe.
Gefordert sind die Parlamentarier. Sie müssen möglichst zügig praktikable Lösungen vorlegen. Genau darüber debattierten sie nun am Donnerstag. Die beiden Abstimmungen am Vorabend hatten den Weg geebnet für das Votum darüber, den Brexit zu verschieben. Und das wurde am frühen Abend erwartungsgemäß und mit großer Mehrheit (412 zu 202 Stimmen) verabschiedet. Heißt: Theresa May wird nun den Canossa-Gang antreten und bei der EU um eine Verlängerung des Austrittsabkommens bis Ende Juni betteln. Falls die Europäer zustimmen, ist der Brexit am 29. März vom Tisch. Ein Selbstgänger ist das allerdings nicht, wie die EU-Kommission unmittelbar danach deutlich machte. Sämtliche 27 Mitgliedsstaaten müssen die Verlängerung durchwinken, und man sollte nicht unterschätzen, dass der Kontinent von einer gewissen Brexit-Müdigkeit befallen ist. EU-Ratspräsident Tusk plädierte für eine längere Denkpause von bis zu einem Jahr. Das würde den Briten genügend Zeit bieten, Neuwahlen abzuhalten oder gar ein Zweites Referendum.
Dessen Chancen sind aber weiterhin überschaubar. Am Donnerstag hatten die Parlamentarier einen ersten Wurf dafür mit großer Mehrheit abgebügelt und zur allgemeinen Überraschung auch einen Zusatz, den der Labour-Abgeordnete Hillary Benn eingebracht hatte und der einer De-facto-Entmachtung von May gleichgekommen wäre. Er scheiterte denkbar knapp (312 zu 314 Stimmen) – sehr zur Erleichterung der Regierung. Es war nach einer ganzen Niederlagen-Serie ein bisschen Balsam für May.
Dritte Brexit-Deal-Abstimmung für Theresa May
Die will nun unbeirrt in der kommenden Woche abermals über ihren bereits zweimal abgeschmetterten Deal abstimmen lassen. Die Chancen, ihn im dritten Anlauf durchzubekommen, sind gering. Obschon, sieh an, die Europa-Skeptiker ganz offenkundig ihre Felle schwimmen sehen und zaghaft Unterstützung signalisierten. Die nordirische DUP und die Hardliner der "European Research Group" könnten sich nunmehr hinter der angeschlagenen Premierministerin versammeln. Spät, vermutlich zu spät.
Hinter den Kulissen laufen längst Gespräche über einen parteiübergreifenden Konsens für einen weichen Ausstieg, den auch Labour-Boss Jeremy Corbyn inzwischen offenbar favorisiert. Dafür könnte es vermutlich sogar eine Mehrheit geben.
Könnte. Man weiß es nicht. Alles bleibt im Schwang und offen. Verlass ist auf nichts mehr. Mit einer Ausnahme vielleicht: Fußball. Am Morgen nach dem chaotischen Mittwoch und den entsprechenden Schlagzeilen hatte die "Sun" Tröstliches zu vermelden: "Während unsere Politiker zaudern und sich blamieren, sind die Fußballvereine des Landes für das genaue Gegenteil des Brexit verantwortlich – extreme Kompetenz und ein sehr klarer Verbleib in Europa."