Am Freitag hat Putin im Ukraine-Krieg eine neue Front aufgemacht: im Nordosten zwischen der russischen Großstadt Belgorod und der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw. Der Hauptstoß zielt dann auch direkt nach Charkiw, eine zweite Richtung etwas weiter östlich zielt auf den Fluss Siwerskyj Donez.
In der Nähe der Hauptstraße M20 haben die Russen die Dörfer Kudiivka und Hoptivka eingenommen. Ebenso sind Strilecha, Pyl'na und Boryssiwka gefallen. Am Samstag wird um die zweite Reihe an Dörfern gekämpft. Weiter östlich beim Siwerskyj Donez versuchen sie sich an beiden Seiten der Stadt Woltschansk vorzuarbeiten. Die schnellen Erfolge sind keine große Überraschung, da die Zone auf ukrainischer Seite kaum beziehungsweise gar nicht besetzt war. Bislang handelt es sich um die russische Kopie der glücklosen ukrainischen Belgorod Offensive vom letzten Jahr.
Keine Eroberung von Charkiw
Man kann nicht sagen, welche Absicht die Russen mit der Offensive verfolgen, denn sie können je nach Entwicklung mehrere Ziele im Auge haben. Das erste ist eine Eskalation des Abnutzungskrieges. Putin führt den Krieg des reichen Mannes. Er kann es sich leisten, einen bisher eher ruhigen Frontabschnitt in eine heiße Zone zu verwandeln.
Kiew hingegen führt seit Monaten den Krieg des armen Mannes. Es fehlte schon bei den Kämpfen im Donbass an Munition, an schweren Waffen und an Soldaten. Nun wird die Ukraine gezwungen, weitere Reserven im Norden einzusetzen. Einfach gesagt: Jede Granate und jeder Soldat, die nach Charkiw geschickt werden, fehlen – schmerzlich – an der Donbassfront. Schon im Donbass war die Ukraine gezwungen, abgekämpfte oder frisch aufgestellte Einheiten an die Front zu schicken. Eine neue Front wird die Reserven weiter anspannen.
Kampf aus der Ferne
In dem gesamten Abschnitt bis Sumy haben die Russen keine 100.000 Mann zusammengezogen. Für die große Sommeroffensive, die tief in die Ukraine stößt und dann Charkiw erobern soll, reicht das nicht aus. Und derzeit scheinen auch nur kleine Gruppen im Gefecht zu stehen. Russische Blogger schätzen die Gesamtstärke auf etwa 2000 Mann und dämpfen die Erwartungen. Die Russen setzten bisher nur wenige Soldaten ein, bombardieren die Zone bis nach Charkiw dafür aber unentwegt – mit Artillerie und Gleitbomben. Ihr Ziel ist es, die herangeführten ukrainischen Truppen bereits im Anmarsch und der Bereitstellung zu treffen. Dazu greifen sie Depots und Brücken an. Unter anderem wurde der Staryi Saltov Damm gesprengt. Alles Dinge, die Kiew auch hätte gegen die russischen Bereitstellungen unternehmen können, wenn man die Mittel gehabt hätte.
Die Ukraine leidet darunter, dass die Initiative komplett an die Russen übergangen ist, und die eigenen Kräfte immer nur in Reaktion eingesetzt werden, ohne dass die russischen Pläne im Detail bekannt wären. Auch gegenüber Sumy haben die Russen Truppen konzentriert. So besteht die Gefahr, dass, sobald die Ukrainer bei Charkiw eine Verteidigung eingerichtet haben, die Russen Stand- und Spielbein wechseln und ihren Schwerpunkt nach Westen verlagern
Ausblick der Charkiw-Operation
Es ist unwahrscheinlich, dass die Russen zu diesem Zeitpunkt auf Charkiw vorstoßen und es erobern werden. Vielmehr werden sie versuchen, die Kämpfe in der Grenzregion zu belassen. Hier können sie eine von ihnen kontrollierte Zone schaffen, um so den regelmäßigen Beschuss der russischen Stadt Belgorod zu stoppen. Kiew hat in diesen Kämpfen nichts zu gewinnen, derzeit ist es ganz unwahrscheinlich, dass die ukrainischen Kräfte für eine wirkliche Gegenoffensive reichen. Dennoch können die Ukrainer die Russen nicht gewähren lassen und ihnen kampflos Dörfer und Städtchen in der Grenzregion überlassen.
Und die Russen werden versuchen, mit ihrer drückenden Überlegenheit zu Luft, bei Fernwaffen jeder Art und bei der Artillerie möglichst viele ukrainische Soldaten zu töten und das Kriegsgerät des Gegners zu vernichten. Dazu werden die Kämpfe und die schweren Bombardierungen dazu führen, dass hinter der Front das zivile Leben erlahmt, weil die Bewohner fliehen. Putin muss die zweitgrößte Stadt der Ukraine nicht wirklich erobern, damit sie für Kiew wertlos wird. Das russische Hauptaugenmerk wird weiter auf den Kämpfen im Donbass liegen. Neben dem Ablenkungs- und Abnutzungseffekt der Kämpfe bei Charkiw, werden die Russen versuchen, im Norden gute Ausgangsstellungen für eine mögliche Großoffensive zu erreichen.
Putin schöpft aus dem Vollen
Die russische Operation zeigt: Seit Monaten haben die Russen die Initiative übernommen und rücken langsam, aber stetig vor. Diese Bewegungen auf dem Boden sind nicht zu leugnen, sie werden jedoch von manchen Beobachtern mit dem Hinweis auf unglaubliche russische Verluste relativiert. Motto: Die Russen rücken noch ein wenig vor, aber sie bluten sich in wenigen Wochen aus. Doch nun zeigt Putin: Er kann aus dem Stand heraus eine ganze Armee in den Kampf schicken, der es offensichtlich nicht an Feuerkraft mangelt.
Die Russen werden die Zeit ausnutzen, bis die westliche Hilfs- und Munitionspakete in der Ukraine ankommen. Eine Haubitze, die jetzt zerstört wird, wird im Sommer keine neuen Granaten abfeuern. Vor allem die menschlichen Verluste der Ukrainer schwächen ihre Armee immens.