Vielleicht war es wirklich jener längst abermillionenfach wiederholte Moment in Portsmouth, der die Dynamik dieses phänomenalen Wahlkampfes verkörpert und die Geschichte einer Frau, die sich gerade neu erfindet.
Da saß sie zwischen 14 meist weiblichen Wählern im "Café Espresso" der kleinen Hafenstadt an der Ostküste, so müde gekämpft, vor sich eine leere Tasse, einen leeren Teller, der "Event" war als "Frühstücksgespräch" deklariert. Ungezählte Fragen hatte sie in den vergangenen Tagen über sich ergehen lassen müssen, immer wieder Fragen über ihn, Barack Obama, ihren Albtraum. Jede Sekunde ihrer Auftritte wurde gnadenlos seziert, jedes Zucken ihrer Mundwinkel, jede Falte unter den dicken Lagen Fernsehschminke. Denn die Medien hatten ihre große Story, es ist die Story vom tiefen Fall einer Spitzenkandidatin, und kaum etwas ist schöner als das. Nur Eins: die erfolgreiche Wiederauferstehung nach dem tiefen Fall. Das Comeback.
Und dies ist jetzt ihre Story.
Sie hatte auf Führungsstärke, Entscheidungskraft, Entschlossenheit gepocht, auf jene eiserne Härte, die der Job im Weißen Haus erfordert. "Ready to lead - from day one". Mit dieser Botschaft führte Hillary Clinton den Kampf um die Kandidatur. "Bereit zu führen, - vom ersten Tag an." Unausweichlich. Die Kandidatur - eine Krönungszeremonie. Die Niederlage von Iowa, die katastrophalen Umfrageergebnisse von New Hampshire zeigten - es war die falsche Strategie.
Sie kämpfte mit den Tränen
Und vielleicht war es wirklich diese freundliche Frage im Café in Portsmouth, die sie aus der Fassung brachte, zum ersten Mal in diesem Wahlkampf einen Menschen hinter dem Panzer offenbarte, vielleicht gar einen winzigen Blick in ihre Seele zuließ. "Wie bleiben Sie so guten Mutes?", fragte die Wählerin Marianne Pernold am vergangenen Montag die Senatorin aus New York. "Und wie kriegen Sie es eigentlich hin, dass Ihre Frisur immer noch sitzt?" Da stockte Hillary Rodham Clinton, sie schluckte, sie kämpfte mit den Tränen. "Es ist nicht einfach. Es ist nicht einfach. Und wenn ich nicht so leidenschaftlich daran glauben würde, das Richtige zu tun, dann würde ich es nicht durchstehen."
Es war vielleicht ein ehrlicher, ein authentischer Moment im Leben der Politikerin Hillary Clinton, endlich einmal etwas, was nicht kontrolliert war - zumindest wollten dies die Wählerinnen in New Hampshire glauben, die sie jetzt zurück gewann.
In diesem Moment, inszeniert oder nicht, begann Hillary Rodham Clinton, sich neu zu erfinden. "In der vergangenen Woche habe ich Euch zugehört", sagte die Siegerin gestern Abend. "Und in diesem Prozess habe ich meine eigene Stimme gefunden." Sie hat gelernt - von Barack Obama.
Jungwähler, energiegeladen und dynamisch
Gestern Abend, bei ihrem Siegesauftritt, jubelten hinter ihr Jungwähler, viele Frauen darunter, energiegeladen, dynamisch, sie schwenkten Plakate. Gestern Abend präsentierte sich eine neue Hillary Clinton. Nicht mehr gemeinsam mit den alten Kämpfern aus den 90er Jahren, die so fatal an das Gestern erinnern, an den Versuch, eine Dynastie zu etablieren. Gestern war Hillarys Nacht. Und zum ersten Mal versicherte sie glaubwürdig, dass sie die Sorgen der Menschen ernst nimmt. Sich wirklich um ihre Basis bemüht - die "blue collar Democrats", die Arbeiterschaft, die konkrete Lösungen für ihre Probleme will, nicht nur das nette Versprechen der Hoffnung. Die älteren Frauen, die Entbehrungen und Ungerechtigkeiten ihres Lebens in Hillary Clinton gespiegelt sehen. Diese Demokraten muss sich Barack Obama holen. Er muss von ihr lernen.
Dabei schien ihr Wahlkampf in New Hampshire schon beinahe tragische Züge anzunehmen. Sie, seit 35 Jahren eine öffentliche Person, verheiratet mit einem charmanten Dauerfremdgänger, dessen Affären sie öffentlich verteidigen musste. Sie hatte alle Demütigungen überlebt, hatte sich ihre Kompetenz, die Erfahrung hart erarbeitet. Sie hat ein gutes Wahlprogramm. Detailgenau, jede Prozentzahl sitzt, jedes Problem findet bei ihr eine Lösung. Irak, die Tücken des Gesundheitswesens, die Steuern, die Fehler bei Testverfahren in Schulen. Sie weiß alles, sie kennt alles, brachte Gesetze durch. So nah war sie an der Erfüllung ihres Traumes: es als Frau besser zu machen als alle anderen. Es besser zu machen als selbst er, Bill Clinton. Doch dann verlor sie in Iowa, dann lag sie in den Umfragen von New Hampshire katastrophal zurück, und jede Zahl war ein neuer Tiefschlag für sie. "She is so ... Yesterday", musste sie über sich in den Zeitungen lesen. Noch gestern Morgen richteten sich ihre Strategen auf eine katastrophale Niederlage ein.
Eine neue demokratische Mehrheit für Amerika
Denn es schien, als hätten die Menschen jemanden gefunden, der noch besser ist als Hillary Clinton. Einen Hoffnungsträger mit Substanz. In der vergangenen Woche hatte Barack Obama alle Rekorde geschlagen. Noch nie war die Beteiligung an den Vorwahlen in Iowa so hoch wie in der vergangenen Woche: doppelt so hoch wie vor vier Jahren. 100 Prozent mehr Wähler. Noch nie gaben so viele Erstwähler ihre Stimme ab. Und sie stimmten für Barack Obama. So will er eine neue demokratische Mehrheit für Amerika zimmern. Die begeisterungsfähigen Erstwähler gehören dazu, aber auch unzufriedene Republikaner - und vor allem die landesweit möglicherweise entscheidenden 20 Prozent der Wähler, die sich als "unabhängig" bezeichnen. Bei ihnen fischt Barack Obama nach Stimmen - zunächst für seine eigene Kandidatur. Aber in Wahrheit schon längst für die Präsidentenwahl im kommenden November.
Clintons Strategen, ihre Spin-Doktoren, die PR-Experten hatten Obama bislang hartnäckig zur Eintagsfliege aus Iowa erklärt. Jetzt suchten sie verzweifelt nach einem Ausweg aus Hillarys Dilemma. "Die Clinton-Industrie machte Hillary Clinton zu einem Produkt, dessen Verfallsdatum abgelaufen ist", schreibt der ehemalige Al Gore-Berater Robert Shrum in einer bitterbösen Abrechnung mit seinen Kollegen von der "Clinton-Industrie". "In einem Jahr der Veränderung wurde sie als Kandidatin des Establishments positioniert. Und was noch schlimmer ist: sie scheint immer nur für sich selbst zu sprechen, nie um die Wähler zu werben. Jetzt muss sie sich aufrappeln, neu positionieren. Denn im Gegensatz zu allen Karikaturen ist Hillary sehr wohl ein echter Mensch, privat ist sie oft lustig, und sie kümmert sich um Menschen. All diese Qualitäten wurden bislang regelrecht versteckt. Aber es bleibt nur noch wenig Zeit. Selbst wenn jetzt die echte Hillary zum Vorschein käme, könnten es die Wähler nur als weitere Erfindung betrachten."
Doch wie sollte sich die Kandidatin nun verkaufen? Man versucht es mit einer bewährten Doppelstrategie: Bill Clinton schaltete auf Angriff, er gab der Presse die Schuld. Dieser Obama müsse endlich seziert, unter die Lupe genommen, einem "reality check" unterzogen werden. "Obama? Das größte Märchen, das ich seit langem gehört habe", feuerte er am Tag vor der Wahl.
"Er drückt sich vor Verantwortung"
Jeder Kandidat gehöre auf den Prüfstand, hörte man auch von Hillary Clinton. Dieser Obama verspreche den Wechsel, drücke sich als Senator aber stets um Verantwortung. Und immer wieder verglich sie Obama mit George W. Bush. Auch den habe man damals doch nett gefunden, sagt sie. "Und war er nicht einer, mit dem man gerne ein Bier trinken wollte?"
Und dann kam die neue Stimme, die Hillary Clinton hier in New Hampshire fand. Die Tränen von Portsmouth der "vermenschlichende Moment", wie ihn Clintons Wahlkampfmanager Terry McAuliffe nennt. Weich, authentisch, altruistisch. "So viele hart arbeitende Menschen in diesem Land waren bislang unsichtbar. Aber sie sind nicht unsichtbar für mich. Für sie will ich Präsidentin werden. Und ich habe gelernt, dieser Wahlkampf soll um Euch gehen." Diese neue Hillary, ebenso emphatisch wie angriffslustig, diese Hillary Clinton wird dem Menschenfischer Barack Obama gefährlich. Sie hat von Barack Obama gelernt.
"Dieser Obama. Eine Luftnummer."
Salem, New Hampshire, die Aula der örtlichen High School, es ist 18 Uhr am Abend vor der Wahl, Hillary soll kommen. Hunderte warten geduldig auf Einlass, ganz vorne auch Kathy McCormack, 56, geschiedene Angestellte im öffentlichen Dienst, seit Beginn unterstützt sie Clintons Kandidatur. Fassungslos schüttelt sie den Kopf. "Dieser Obama. Eine Luftnummer. Hillary hat doch den Willen, den Mut. Und sie kann ihre Gegner angreifen. Aber wenn das eine Frau macht, gilt sie sofort als Biest. Wir haben doch immer noch doppelte Standards." Es sind Frauen wie Kathy McCormack, die Hillary in New Hampshire zum Sieg verhelfen werden.
Der Saal ist voll, mehr als 700 Bürger sind gekommen, geduldig warten sie. Ein junger Mann betritt die Bühne, er reißt die Arme hoch, er schreit, er wirft T-Shirts in die Menge wie ein Bananenverkäufer auf dem Hamburger Fischmarkt, er ist der Einpeitscher, der auf den Veranstaltungen für Stimmung sorgen soll. Manchmal veranstaltet er auch ein Hillary-Quiz. Dann muss man sich das T-Shirt erarbeiten.
Sie nimmt sich Zeit, sehr viel Zeit
Endlich kommt sie in stahlblauem Hosenanzug und flachen, abgelaufenen Schuhen, müde, erschöpft. Doch sie nimmt sich Zeit, viel Zeit, sehr viel Zeit. Sie redet über Probleme, über eine Welt voller gewaltiger Probleme, über den Irakkrieg und die Klimakatastrophe, über den Bürgerkrieg in Nordirland und über behinderte Kinder und die grauenhaften Gehirnverletzungen der Irak-Heimkehrer, und man spürt, die Last all' dieser Probleme liegt auf ihren Schultern. Sie ist ein Profi. Sie verspricht sich kein einziges Mal, sie ist charmant, ihre Stimme weich, sie nimmt die Probleme der Menschen ernst. Hier in New Hampshire weicht sie von ihrer kontrollierten Wahlkampfrede ab, sie lässt Fragen zu, endlich stellt sie sich den Wählern. Sie ist interessiert, sie kennt alle Details, sie antwortet ausführlich und sie sagt: "Ich will Präsidentin werden, um die Probleme zu lösen. Und es gibt keinen Widerspruch zwischen Erfahrung und Veränderung. Man braucht Erfahrung, um Veränderung zu realisieren."
Die Menschen hören ihr zu, sie hat ja mit Allem Recht, und sie applaudieren höflich, und dann schauen sie auf die Uhr.
"Man kann mit Poesie vielleicht eine Wahl gewinnen" sagt Hillary Clinton. "Aber man muss mit Prosa regieren." Das bleibt ihr Problem. Sie ist die Prosa. Bei den demokratischen Wählern zweifelt niemand daran, dass Hillary Clinton eine gute Präsidentin wäre. Doch da ist einer, der ist die Poesie. Einer, der genau so die Krankenversicherung reformieren will wie Clinton, der wie sie ein Konzept zur Steuerreform hat und Forschungsprogramme für Alternativenergien und auch ein Konzept für den Truppenabzug aus dem Irak. Doch Barack Obama nimmt die Menschen mit auf eine Reise in das Morgen. Er will mehr von ihnen will als ihre Stimme. Er spricht die Menschen als gleichberechtigte Komplizen der Veränderung an. Und er umarmt die Welt.
Der Saal bebt vor Energie
Concord, die Sporthalle, es ist 23 Uhr, seit Stunden haben die Bürger in der Kälte auf Einlass gewartet, es sind weit mehr als 1000, sie sind jung, sie sind alt, sie sind weiß, sie sind schwarz, und sie skandieren den Kampfruf dieser Kampagne, so laut es geht. "Fired up? Ready to go!", und dann bebt der Saal vor Energie. Natürlich ist auch diese Veranstaltung perfekt orchestriert, werden die fernsehwirksamen Plakate in Kamerarichtung verteilt, satte Soul-Musik hält wach, und zur Begrüßung darf eine Studentin sprechen, deren Vater als eingefleischter Republikaner in diesem alles verändernden Jahr Barack Obama wählen wird.
Über der eleganten Leichtigkeit, der jugendlichen Unbekümmertheit, mit der sich die Bewegung "Obama08" präsentiert, wird schnell vergessen, dass dieser Kandidat über eine Kriegskasse von 100 Millionen Dollar verfügt. Dass er Millionen Dollar in die TV-Werbung investiert, über 700 Mitarbeiter und Tausende freiwilliger Helfer mittlerweile im ganzen Land gebietet und den Polit-PR-Profi David Axelrod als Chefberater hat. Barack Obama ist ein Reformer. Er ist weder ein Heilsbringer noch ein Revolutionär. Dieses Wort vermeiden seine Strategen wie der Teufel das Weihwasser. Er will das System nicht stürzen. Barack Obama will die Träume der Menschen nutzen, um das System zu verbessern. Das macht ihn wählbar. Für Wechselwähler und für all' die moderaten Republikaner, die einen Neuanfang Amerikas herbeisehnen.
Ein Profi im "Change Business"
Dann kommt seine Frau, die selbstbewusste, elegante, erwachsene Michelle Obama, sie soll ihren Mann vorstellen, und sie sagt nur: "Er ist die Liebe meines Lebens. Er ist der Vater meiner Kinder", und er umarmt sie fest und flüstert ihr ins Ohr, und die Zuschauer jubeln mit leuchtenden Augen. Und er ist ein Profi im "Change Business", im Geschäft der Veränderung, getragen von der Erfahrung des ehemaligen Sozialarbeiters. In dieser Nacht hält Barack Obama eine seiner besten Reden. Er verpackt sein Programm, das dem seiner Konkurrentin gleicht, in die Botschaft von der verändernden Kraft der Hoffnung, elegant, poetisch. Man werfe ihm vor, naiv zu sein, sagt er, zu idealistisch. "Man wirft mir vor, ich sei nicht erfahren genug, ein Hoffnungshändler. Man will mich wohl noch ein bisschen formen dort in Washington, alle Hoffnung aus mir herauskochen, damit ich dann vielleicht bereit sei?" Und dann malt er die Bilder, die Helden des amerikanischen Traums, John F. Kennedy und Martin Luther King, die Kämpfer gegen die Sklaverei, gegen die Rassendiskriminierung und er sagt: "Was Hoffnung ist? Diese Menschen hatten eine Hoffnung. Sie hatten eine Überzeugung, dafür kämpften sie und riskierten Alles. Das ist Hoffnung. Sie verändert die Welt."
Mit jedem Satz nimmt er seine Zuhörer mit auf seine Reise in das gute, das andere Amerika, und er redet wider die Angst und die Furcht der vergangenen Jahre. Er spricht seine Zuhörer an, er spricht mit dem ganzen Land, und es wird ganz still in der Halle, als er sagt: "Wir müssen uns selbst herausfordern. Uns herausfordern, stets besser zu werden. Mehr zu tun. Und wir wissen, was wir wollen. Unser Moment ist jetzt."
Sie hat von ihm gelernt. So wie er von ihr lernen wird in diesem Duell um die Herzen und Köpfe. Es wird ein ebenso schmutziger wie ehrenwerter Kampf. In zehn Tagen in Nevada. Und in zwei Wochen im Süden, in South Carolina, dort sind 50 Prozent der demokratischen Wähler schwarz. Dort galt Bill Clinton bislang als "erster schwarzer Präsident". Dort liegt Barack Obama in den Umfragen vorn. Und morgen werden sie die Flugzeuge besteigen, sie werden nach Süden gehen, und sie werden um jede Stimme kämpfen.