Seit Wochen versuchen Ärzte, Aktivisten und Angehörige Alexej Nawalny zu Gesicht zu bekommen. Vergebens. Der inhaftierte Oppositionspolitiker wird in dem berüchtigten Straflager IK 2 vor der Weltöffentlichkeit abgeschottet – mit einer Ausnahme. Ein Kamerateam des Propagandasenders RT erhielt Zutritt zu dem prominenten Gefangen der Kolonie.
Entsandt zu der vermeintlichen "Inspektion mehrerer Straflager der Region Wladimir" wurde eine Frau, die in den vergangenen Jahren von Kreml-Propagandisten zu einer Art Märtyrerin stilisiert worden ist: Maria Butina. 2019 war die heute 32-Jährige in den USA zu 18 Monaten Haft verurteilt worden, nachdem sie gestanden hatte, unter Anleitung eines russischen Regierungsvertreters republikanische Kreise und die US-Waffenlobby NRA infiltriert zu haben. Die Waffenlobbyistin bekannte sich zu der Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten.
Im Gegenzug für das tränenreichen Geständnis und die angekündigte Kooperation mit den US-Ermittlungsbehörden war der zweite Anklagepunkt der Tätigkeit als nicht registrierte ausländische Agentin fallengelassen worden. Insgesamt 15 Monate ihrer Haftstrafe saß Butina ab, bevor sie wegen guter Führung entlassen wurde.
Wer, wenn nicht sie, sei nach ihrem Aufenthalt in einem US-Gefängnis dazu befähigt, über die Zustände in russischen Straflagern zu urteilen, heißt es in dem Bericht des vom russischen Staat gegründeten und finanzierten Senders, dem gezielte Desinformation sowie die Verbreitung von Verschwörungstheorien vorgeworfen werden.
Russische Gefängnisse als Ferienlager
Die Videoaufnahmen, die nun seit mehreren Tagen auf mehreren Kanälen des russischen Staatsfernsehens auf und ab laufen, zeigen, wie die ehemalige Agentin durch Räumlichkeiten der Kolonie läuft, die Zustände dort als "vorbildlich" lobt und den "idealen Fußboden" preist.
Das Narrativ ist denkbar einfach: Im Vergleich zu US-amerikanischen Gefängnissen sind russische Straflager praktisch ein Ort der Erholung, an "Ferienlager" fühlt sich Butina erinnert. Die Häftlinge würden unter besseren Bedingungen leben als Hotelgäste in der russischen Provinz, blafft Butina Nawalny entgegen, der es gewagt hatte, die Zustände in dem Straflager anzuprangern. Unter anderem warf er der Gefängnisleitung vor Folter durch Schlafentzug zu betreiben. "Das soll Folter sein?", ruft Butina mit schlecht gespielter Empörung. Hinter ihr im Bild sind dabei die Metallgestelle von leeren zweistöckigen Betten zu sehen. "Sind Sie bei Verstand? Hier sieht es besser aus als in einem Hotel in der Altai-Region!"
Dass diese Bemerkung für russische Hotels und die Zustände in den Regionen nicht schmeichelhaft sind, geht den Machern erst nach der Ausstrahlung auf. Schleunigst werden die entsprechenden Passagen auf den offiziellen Kanälen entfernt. Doch das Netz vergisst bekanntlich nie. Fröhlich ziehen die Russen über den Fauxpas her. "Was könnte besser sein als das Geständnis eines Propagandisten, dass das Leben in Russland schlechter ist als im Gefängnis?", schrieb etwa die Bloggerin Anastasia Kirelenko.
Maria Butina in ihrer Paraderolle
Nawalny ist während des Auftritts von Butina kein einziges Mal zu sehen. Man hört nur seine Stimme. Er habe erklärt, nicht gefilmt werden zu wollen, behaupten die RT-Propagandisten. Dabei werden den Zuschauern im selben Beitrag dubiose Aufnahmen versteckter Kameras aus dem Gefängnis präsentiert, die Nawalny etwa beim Schlafen zeigen sollen. Ob man dafür das Einverständnis des Politikers bekommen hat, wird nicht erwähnt.
Stattdessen erwähnt Butina an die Dutzend Mal ihren Gefängnisaufenthalt in den USA. "Gibt es hier bei euch Kakerlaken? In den USA laufen sie überall", witzelt sie etwa und geht in ihrer Paraderolle auf: als Opfer der US-Justiz. Ihr Schuldeingeständnis, die Beweislast gegen sie und auch ihre Kooperation mit den US-Behörden – alles unter den Teppich gekehrt.

Seit ihrer Rückkehr nach Russland arbeiten Butina und die Kreml-Propagandisten an dem Bild einer Märtyrerin. Mit jedem Interview werden die Haftbedingen und die Qualen, die sie US-Haft habe erleben müssen schlimmer. "467 Tage in der Hölle", mit diesem Slogan warb sie für ihr Buch, das sie im vergangenen Jahr über ihren Gefängnisaufenthalt veröffentlich hat. Unter anderem beklagt Butina, man habe sie als suizidgefährdet eingestuft und nachts jede Viertelstunde Kontrollen durchgeführt. Außerdem habe sie anfänglich keinen Kontakt zu ihrer Familie gehabt, klagt sie. Auch der Ernährungsplan sei mangelhaft gewesen.
"Jeden Donnerstag gab es im Gefängnis einen Hähnchentag", erzählte sie im Oktober 2019 RT über ihre Haft in Florida. "Mit dem Hähnchentag ist der Kampf um Hühnchen gemeint. Den gab es immer, weil die Hähnchenschekel klein sind, aber man Hunger hat." Außerdem hätten ihr Bananen gefehlt. "Bananen sind aus irgendeinem Grund in Amerika Mangelware." Die habe es nur an Feiertagen gegeben.
Dabei vergaß sie jedoch zu erwähnen, dass nach den Regeln des US Federal Bureau of Prisons jeder Insasse das Recht hat, Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung und Gegenstände persönlichen Bedarfs im Gefängnisladen zu erwerben, wenn ihm etwas fehlt. Jeden Monat können dafür 320 Dollar ausgegeben werden. Freunde von Butina hätten regelmäßig Geld auf das Konto der Russin überwiesen, berichtete ihr Anwalt Robert Driscoll. "Sie haben alles getan, um sicherzustellen, dass mindestens 100 Dollar auf ihrem Konto waren", erzählte er dem russichen Dienst der BBC. "Es gab jeden Tag Obst und Gemüse. Sie hatte die Möglichkeit, jeden Tag zu joggen und konnte einmal pro Woche ihre Familie per Video anrufen", sagte Driscoll.
Im Gefängnis habe ihr ein orthodoxer Priester Butina regelmäßig Besuche abgestattet, wie er in einem Schreiben bestätigte, als es darum ging, für die Agentin eine frühere Haftentlassung zu erwirken. Die Zeit in Haft habe sich Butina mit Italienisch-Unterricht vertrieben und ihrerseits andren Mithäftlingen Yoga und Algebra beigebracht, berichtete die kremltreue Zeitung "Izwestija" im November 2018. Außerdem belegte Butina zahlreiche Kurse, unter anderem einen Strick-Kurs, wie Zertifikate auf ihren Namen belegen. Direkt nach ihrer Entlassung erzählt sie, sie habe in Haft Bücher über Ikonenmalerei und Kunst gelesen und sich auch den russischen Klassikern gewidmet.
"Der Name Butina klingt fast so wie Putin"
Doch mit Strick-Kursen und Italienisch-Unterricht lässt sich kein Märtyrerinnen-Image schaffen. Und so werden solche Berichte von RT und anderen Staatsmedien schlicht unterschlagen. Stattdessen redet sie bei der Visite im IK 2 über angebliche Schikanen in den US-Einrichtungen. "Waren Sie in einem amerikanischen Gefängnis?", fragt sie jedes Mal, wenn die Rede auf Nawalnys Beschwerden kommt, der in den Beiträgen der Staatsmedien als nörgelnder, hochnäsiger Krimineller dargestellt wird, der die Dienste der russische Medizin – die nach Putins Einschätzung die beste der Welt ist – nicht zur würdigen weiß.
Butina ist für den Kreml das perfekt präsentierbare Opfer der russlandfeindlichen US-Politik und der demokratischen Ränkespiele gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Warum ausgerechnet sie vom FBI zum "Opfer" im schmutzigen Polit-Krieg auserkoren wurde, erklärte einmal der Politologe Alexej Muchin ganz eigensinnig. "Der Name Butina klingt fast so wie Putin". Sie sei deswegen bewusst ausgesucht worden, damit die Amerikaner immer wieder unterbewusst den Namen Putin im Zusammenhang mit Trump hören.
Nun sollen wohl aus Sicht von Kreml-Propagandisten die russischen Zuschauer in denselben Genuss kommen und immer wider an Putin erinnert werden – dieses mal jedoch als Ziel von US-Schikanen.