Die Siegesrede in Chicago Barack Obama schreibt Geschichte

Im Publikum weinen die Menschen, als der frisch gewählte US-Präsident Barack Obama in Chicago auf die Bühne tritt. In seiner Rede lässt er keine Zweifel: Amerika, es wird hart. Katja Gloger und Jan Christoph Wiechmann berichten von einem bewegenden Augenblick in der US-Geschichte.

Er kommt um eine Minute vor Mitternacht. Nichts ist Zufall bei diesem Mann, der ein großes Faible für Symbolik hat. Er kommt mit seiner Familie, mit seiner Frau Michelle und seinen Töchtern Malia und Sasha, er schickt sie mit einem sanften Kuss wieder hinter die Bühne und dann spricht er die Sätze: "Hallo Chicago. Hallo Amerika. Wenn es noch irgendjemanden geben sollte, der Zweifel hat, dass Amerika der Ort ist, wo alles möglich ist, ... heute habt ihr eure Antwort."

Barack Obama schreibt Geschichte an diesem sternklaren Abend des 4. November 2008. Er ist der erste schwarze Präsident Amerikas. Im Publikum weinen die Menschen, Jesse Jackson, Oprah Winfrey, viele andere, vor allem Schwarze, aber nicht nur Schwarze. Obama könnte jetzt Stolz zeigen, wenigstens Freude, aber es ist ein vorsichtiger, ein zurückgenommener Auftritt. Vielleicht ist es die Erschöpfung nach 21 Monaten Wahlkampf, vielleicht die Trauer über den Tod seiner Großmutter, vielleicht ist es die Größe des Augenblicks, aber eher wohl etwas anderes: Dies ist nicht die Zeit zum Triumphieren. Dies ist nicht mal die Zeit für ausgiebige Feiern. In den folgenden 20 Minuten seiner Rede lässt er keinen Zweifel: Amerika, es wird hart. "Wir wissen, die Herausforderungen von morgen sind die größten unseres Lebens. Zwei Kriege, ein Planet in Gefahr, die schlimmste Finanzkrise in einem Jahrhundert."

Das Land wieder aufbauen

Zustimmendes Nicken im Publikum, auch Applaus, keine Ekstase. Eine Million Menschen sind in den Grant Park am Lake Michigan gekommen, und sie lassen keinen Zweifel, dass sie mithelfen wollen, dieses Land wieder aufzubauen. Die Truppen, die Obama den Sieg brachten, diese Millionen Freiwilligen, sollen nun die Trümmer der Bush-Jahre beseitigen.

Obamas Rede ist ein Aufruf an das ganze Land. Das Motto: Lasst uns anpacken und lasst uns aus den Ruinen wieder auferstehen. "Dies ist unser Moment. Dies ist unsere Zeit - unseren Menschen wieder Arbeit zu geben und unseren Kindern die Türen der Möglichkeiten zu öffnen." Yes we can. Immer wieder durchzieht sein Schlachtruf die Rede und verschmilzt mit dem Credo des amerikanischen Volkes. Yes we can. Nicht triumphierend, sondern ermunternd. Yes we can. Er erinnert an die großen Siege der Vergangenheit, den Sieg über Sklaverei und Rassentrennung, den Sieg über die Weltwirtschaftskrise, den Sieg im Zweiten Weltkrieg und lässt keinen Zweifel daran, dass er jetzt Amerika braucht, Demokraten und Republikaner, jung und alt. Die Zeit der Spaltung ist vorbei. "Wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika."

"Yes we can", rufen die Menschen. Yes. We. Can.

Auch die Hochhäuser sind geschmückt

Hinter ihm leuchten 25 amerikanische Flaggen, sanft im Abendwind flatternd. Vor ihm: die Skyline Chicagos, zum Teil angestrahlt in Blau, Weiß und Rot. Auch die Hochhäuser haben sich geschmückt für die Geschichte.

Am Nachmittag hatte Obama noch Basketball mit Freunden auf der West Side Chicagos gespielt, wie er es an Wahltagen immer macht. Dann zieht er sich mit seiner Familie zurück, zunächst in sein Haus im Stadtteil Hyde Park. Danach in eine Suite des Hyatt Hotels mit Blick auf den Lake Michigan und den Grant Park, wo schon ab Mittag Tausende Menschen eintreffen. Eine Frau aus Seattle ist 3000 Kilometer angereist und hat sich ein Schild umgebunden: "Komme aus Seattle, brauche dringend eine Karte."

Diese Nacht nimmt den Menschen keiner

Lisa Reynolds, eine Köchin, ist mit ihren drei Kindern 800 Kilometer in einem alten Chevrolet aus Ohio angereist, "um meinen Kindern zu zeigen, wie man Geschichte erlebt". Aber es ist schwer, an Karten zu kommen. 78.000 Menschen passen nur auf das Hutchinson Field des Grant Park, wo sonst Sportveranstaltungen stattfinden. Draußen vor den Toren versammeln sich Hunderttausende mehr. Sie bleiben. Sie bevölkern die Straßen. Diese Nacht nimmt ihnen keiner.

Natürlich wählte Barack Obama auch diesen Ort aus symbolischen Gründen: ein Platz für die Bürger, öffentlich, unter sternenklarem Himmel, Chicagos Skyline im Hintergrund, als ob möglichst viele, ja das ganze Land an seinem Sieg teilhaben sollen. Königin Elisabeth II war schon hier, Papst Johannes Paul II zelebrierte hier 1979 eine Messe. Und Ende der 60er Jahre demonstrierte man hier gegen den Vietnam-Krieg. Obama hat eben einen Sinn für Symbolik. Geschätzte Kosten für das Spektakel: mindestens zwei Millionen Dollar allein für zusätzliche Dienstleistungen der Stadtverwaltung.

Menschen aller Hautfarben

Die Zuschauer stehen auf dem Baseballfeld und bejubeln jedes Ergebnis, das an diesem Abend eintrifft. Sie tragen Obama-T-Shirts - schon mit dem Präsidentensiegel - sie haben ihre Gesichter geschminkt, einige sogar die Glatzen tätowiert, mit "Obama", mit Sonnen und Friedenszeichen. Sie haben nichts gemein mit den Hippies vor 40 Jahren, aber ihre Botschaft an diesem Abend ist so ähnlich: Love, Peace and Happiness. Da stehen Menschen aller Hautfarben und jeden Alters, während sich bei John McCain in seinem Hotel in Phoenix gleichzeitig nur Weiße versammeln.

Hier im Grant Park dagegen steht: die Zukunft Amerikas.

Dann kommen die entscheidenden Ergebnisse rein: Ohio - für Obama. Florida - Obama. Virginia - Obama. Jene Staaten, die Bush vor vier Jahren noch gewann, gehen alle an Obama. Auch Nevada und Colorado gewinnt er, Iowa und New Mexiko, vor vier Jahren noch republikanische Staaten. Zwischendurch werden Bushs Umfragewerte eingeblendet. Klägliche 24 Prozent. Dies ist auch eine Abstimmung über George W. Bush. Eine Abrechnung.

Hautfarbe spielte keine Rolle

Gegen 21 Uhr brandet bei der Bekanntgabe eines Umfragewertes besonders großer Jubel auf: "Die Hautfarbe spielte keine große Rolle", vermeldet CNN. Da tanzen die Massen, sie recken Obama-T-Shirts wie Flaggen in die Luft, und ein schwarzer Mann küsst seine weiße Frau vor dem Abendhimmel von Chicago.

Barack Obama entlässt die Menschen an diesem Abend mit einem Familienbild. Sein Vizepräsident Joe Biden betritt die Bühne, die Kinder, Bidens alte Mutter, Michelle Obamas Mutter, ihr Bruder, ihre Neffen, ein großes versöhnliches Familienbild aus Jung und Alt, Schwarz und Weiß.

Für seine Töchter hat Obama noch eine Botschaft, und sie ist die wichtigste dieser historischen Nacht für Malia und Sasha: "Wir schaffen uns für das Weiße Haus ein Hundebaby an."

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