Die ukrainischen Verteidiger haben die Kleinstadt Bachmut hartnäckig und lange verteidigt. Zuletzt gelang ihnen ein symbolischer Sieg: Am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland, hielten sie immer noch einen Zipfel der Innenstadt, sodass Putin nicht die vollständige Einnahme der Stadt verkünden konnte.
In den letzten Tagen zahlten sie den Preis dafür. Die Wagner-Söldner rollten die ukrainischen Stellungen in einem Tempo auf, das Kiew nicht für möglich gehalten hat. Denn obwohl die Ukrainer nur noch wenige Prozent der Stadtfläche hielten, befand sich darin die schwerbefestigte "Zitadelle".
Kompakte Siedlung
Um die Bedeutung der Zitadelle und ihre Teilsegmente zu verstehen, muss man den Aufbau der Stadt ansehen. Bachmut ist eine kompakt aufgebaute Siedlung, die sich scharf vom Umland absetzt. Sie wird beherrscht von Hochhäuserblocks aus der Sowjetzeit. Diese Blöcke von Hochhäusern wurden zu "Festungen" im Kampf um Bachmut. In den oberen Etagen, die das Schussfeld ringsum beherrschen, sitzen Beobachter und Schützen, der Rest der Truppe und die Versorgung sind in Erdgeschoss und Keller untergebracht. Diese hochbebauten Gevierte sind die Eckpfeiler der Verteidigung. Andere Zonen in Bachmut bestehen aus eingeschossigen Wohnhäusern in Leichtbauweise – häufig aus Holz. Sie bieten einen gewissen Sichtschutz, aber nicht mehr. In diesen flach bebauten Zonen lassen sich nur die vereinzelten großen Gebäude vereidigen, das sind Verwaltungsgebäude: Speditionen, Schulen, Krankenhäuser etc.
Bachmut vor dem Fall. Bilder einer Schlacht, die nicht enden darf

Schon fast ein Jahr lang kommt es in der 75.000-Einwohner-Stadt zu Auseinandersetzungen mit prorussischen Separatisten. Bereits im Frühjahr gleichen manche Ecken Bachmuts Trümmerfeldern.
Der letzte Rückhalt Kiews bestand aus einer Gruppe von Hochhäusern und aus einigen größeren Gebäuden an den Flanken der Stadt, damit schirmten sie den westlichen Rand von Bachmut ab und deckten die verbliebenen Wege für den Naschschub. Innerhalb kurzer Zeit ist diese Stellung bis auf einen kleinen Rand im Westen zusammengebrochen. Zuerst gelang es den Russen im Norden, die "Olympische Schule" zu nehmen und daraufhin durch die Zonen der Einzelhäuser vorzudringen. Dann gelang es ihnen, Häuser im Zentrum der Zitadelle zu stürmen. Dabei trieben sie einen Keil zwischen die Zone mit den Namen "The Nest" im Nordosten und " Construction Area " im Nordwesten.
Fall der Zitadelle
Dabei sollen die Russen durch die Fernwärmeleitungen in die Keller der Häuser gelangt sein. Auch sollen sie von Haus zu Haus vorgerückt sein, indem sie nicht durch die Eingänge und Fensterseiten eindrangen, sondern Löcher durch die massiven Trennwände gesprengt haben. Häuserkämpfe werden seit Stalingrad auf diese Weise geführt. Die vergleichsweise kleine Besatzung eines Hauses wird es überfordert haben, wenn der Gegner gleichzeitig durch den Untergrund und auf verschiedenen Etagen durch die Wände vorgedrungen ist. Die angrenzenden Häuser im Nest und der Construction Area mussten dann aufgegeben werden.
Dazu haben die Wagner-Söldner die Brücke zwischen Bachmut und Tschassiw Jar mit einem Artillerieschlag vernichtet. Das reduzierte die Fähigkeit der Ukrainer, Material in die Stadt hinein und Truppen wieder herauszunehmen. Nach russischen Quellen sind die Wagner-Söldner derzeit auf ganzer Breite in den letzten Häuserstreifen – Codename "Domino" – eingedrungen sein. Um das Kinderkrankenhaus soll gekämpft werden, wenn es nicht schon gefallen ist. Wenn kein Wunder geschieht, steht der Fall von Bachmut unmittelbar bevor.
Rückzug über offene Felder
Unbekannt ist, wie viele ukrainische Soldaten sich dort noch befinden. Die Ukrainer sollen bereits Verteidigungsstellungen in den Baumreihen westlich der Stadt eingerichtet haben. Wenn die Wagner-Männer die letzten großen Gebäude am Rand der Stadt erreicht haben, stehen für die ukrainische Nachhut die bittersten Kämpfe bevor. Direkt hinter den Hochhäusern beginnt eine Zone offener Felder, über die die letzten Verteidiger müssen, wenn sie ukrainische Linien erreichen wollen. Ein geordneter Rückzug im Feuerbereich der Russen ist nicht möglich. Vermutlich werden die Ukrainer versuchen, nachts in kleinen Gruppen über diese Äcker zu kommen.
Im Licht der Entwicklung der letzten Tage muss die ukrainische Gegenoffensive bewertet werden. Im Norden wie auch im Süden gelang es den Ukrainern, die Russen aus ihrer ersten Verteidigungslinie zu werfen. Dabei ist es auf russischer Seite zu chaotischen Situationen gekommen. Man konnte sehen, wie schlecht die russischen Truppen teilweise ausgerüstet sind. Zwei hochrangige Offiziere fanden den Tod, aber es gelang ihnen, die Front zu stabilisieren. Seitdem kamen die Ukrainer nicht nennenswert voran. Im Norden haben sie etwas vorteilhaftere Stellungen. Doch in beiden Räumen liegen sie vor dem russischen Befestigungssystem fest, das auf Höhenzügen angelegt wurde.
Zwiespältige Ergebnisse der Gegenoffensive
Kiew sind bisher keine Durchbrüche gelungen, von einer Einkesselung der Russen in Bachmut gar nicht zu reden. Tatsächlich schaffte es die Offensive nicht, den Druck auf die Verteidiger in der Stadt zu mindern. Im Gegenteil: Die Wagner-Söldner haben ihren Angriff sogar verstärkt.
Mangelhafte Kommunikation und schlechte Ausrüstung ließen sich auf der russischen Seite beobachten. Doch die Vorpostenlinie in einem gestaffelten Verteidigungssystem ist nicht dafür gedacht, den Gegner zu stoppen, sie soll den Vormarsch verlangsamen und den Gegner beim Vorrücken in eine ungünstige Zone vor der zweiten Linie lotsen. Die Flankenangriffe haben den ukrainischen Zugang zur Stadt verbreitert und werden es erleichtern, die letzten Truppen aus dem Raum zu lösen. Letzten Endes ist das ein temporärer Erfolg im Rahmen eines Rückzugsgefechts. Dabei hat Kiew Teile seiner besten Angriffstruppen ohne durchschlagenden Erfolg gegen eher zweit- und drittrangige russische Einheiten eingesetzt. Ein neuer Angriffsschwung der Ukrainer ist derzeit nicht zu erwarten. Mit dem Fall von Bachmut muss sich die Ukraine darauf vorbereiten, dass die Russen von der Stadt aus die angrenzenden von Kiew gehaltenen Siedlungen angreifen.