Die Freunde der EU-Verfassung müssen kämpfen. Sie brauchen jeden Mann, jede Frau, um den Bürgern dieses dröge Stück Text näher zu bringen, ihnen die Ängste zu nehmen, sie zu überzeugen. Die Zeit drängt: Am 29. Mai stimmt das Volk ab, und bisher scheint die "Grande Nation" eher zum "Non" zu neigen als zum "Oui".
Jospin als Verfechter der Verfassung
Die Befürworter können jede Hilfe gebrauchen - zur Not auch von Lionel Jospin. Seit seiner bitteren Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 war der Ex-Premier in der Versenkung verschwunden. Jetzt, am vergangenen Donnerstag, tauchte der Sozialist wieder aus der Versenkung auf. Urplötzlich. Als heldenhafter Verfechter der europäischen Verfassung. "Die Franzosen sind wütend," sagte Jospin zur besten Sendezeit im Fernsehen, "sie sind unzufrieden - und sie haben allen Grund für ihre Wut. Aber wenn sie gegen den Verfassungsvertrag stimmen, bestrafen sie Frankreich, und sie bestrafen Europa - jene jedoch, die gerade an der Macht sind, bestrafen sie nicht."
Scheitern wäre politischer GAU
Allein Jospins Wiederauferstehung zeigt: In Frankreich geht es derzeit um viel. Scheitert das Referendum, erlebt die Europäische Union den GAU - den größten anzunehmenden Unfall, denn die mühsam ausgehandelte Verfassung kann nicht in Kraft treten. Scheitert das Referendum in Frankreich, muss Frankreich entweder ausscheren aus der Gruppe der Integrationsstreber oder einen völlig neuen europapolitischen Kurs fahren. Der deutsch-französische Kern jedenfalls, der Nukleus, wäre vorerst gespalten. Völlig unklar wäre, welche Kräfte dadurch freigesetzt würden.
Düstere Umfrage-Ergebnisse
Oui oder doch eher Non? Sind Sie für oder gegen die Verfassung? Die Umfragen verheißen nichts Gutes. Reportierte das Meinungsforschungsinstitut BVA noch im Oktober 2004 eine Zustimmungsquote von 62 Prozent, schrumpfte der Anteil der Befürworter bis zum April dieses Jahres auf schlappe 42 Prozent zusammen. Die Gegner waren in der Mehrheit. Zwar vermeldete die Tageszeitung "Le Monde" am vergangenen Wochenende wieder ein Trendwende zu Gunsten der Verfassungsfans, aber klar ist schon jetzt: Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Franzosen die Verfassung scheitern lassen. Oui oder non? Bereits zweimal zuvor haben die Franzosen per Referendum über einen EU-Vertrag abgestimmt: 1972, als Großbritannien, Irland und die Dänemark der EU beigetreten sind und 1992, als der EU-Vertrag von Maastricht zur Abstimmung stand. Auch 1992 war es knapp. Mit 51,1 Prozent obsiegten damals die EU-Befürworter.
Innenpolitische Gründe für EU-Skepsis
Die Skepsis der Franzosen hat zu einem großen Teil innenpolitische Gründe. Die Stimmung in der Wirtschaft droht zu kippen. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass der Konsum, der das Wachstum bisher stützt, nachlässt. Die Arbeitslosigkeit kletterte im März dieses Jahres auf 10,2 Prozent - den höchsten Stand seit Februar 2000. Fast 2,5 Millionen Franzosen waren im März ohne Job. Viele machen für die Misere Präsident Jacques Chirac und dessen blassen Premier Jean-Pierre Raffarin verantwortlich. Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage der Zeitung "Le Figaro" sind fast zwei von drei Franzosen mit Chiracs Amtsführung unzufrieden. Dabei hängt die Chirac-Müdigkeit nicht unbedingt mit Chiracs Politik als vielmehr mit seiner Person und seiner Machtfülle zusammen. "Im Parlament hat die Regierungspartei UMP eine Zweidrittelmehrheit. Seit 2002 gibt es de facto keine wirksame Opposition. Das haben die Franzosen satt", sagt die Frankreich-Expertin Daniela Schwarzer von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Weil in Frankreich vor 2007 keine Präsidentschaftswahlen mehr anstehen, nutzen viele Bürger das Referendum, um Verfassungs-Befürworter Chirac und seiner Regierungspartei einen Denkzettel zu verpassen.
Furcht vor Billiglohn-Konkurrenz aus Osteuropa
Zusätzlich löst die EU-Verfassung bei vielen Franzosen Existenzängste aus. Sie fürchten die vermeintlichen Folgen der Globalisierung und der EU-Erweiterung - Billiglohn-Konkurrenz aus Osteuropa und einen radikalen Abbau des Sozialstaats. Die EU-Verfassung hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung zum Feindbild entwickelt. Gerade Politiker der Linken verteufeln die EU-Verfassung als Dokument einer beinhart neoliberalen Politik. "Die Linken fürchten, dass die EU-Verfassung ein neoliberales Wirtschaftsmodell zementiert", sagt Schwarzer. "Sie gaukeln der Bevölkerung vor, mit einem 'Nein' werde Schlimmeres verhindert." Auffallend ist, dass die Argumente der französischen Linken der Kapitalismuskritik des deutschen SPD-Chefs gleichen - nur, anders als in Deutschland, muss in Frankreich die EU als Sündenbock herhalten.
Gespaltene Sozialisten
Vor allem die sozialistische Partei, die Parti Socialiste (PS), droht von dem Streit über die EU-Verfassung zerrissen zu werden. Zwar sprachen sich bei einem Votum im vergangenen Dezember 59 Prozent der Parteimitglieder für die EU-Verfassung aus, aber das hindert Laurent Fabius, immerhin Ex-Premier und Ex-Finanzminister, keineswegs daran, als einer der härtesten Kritiker gegen die EU-Verfassung zu Felde zu ziehen. Die Gegner behaupten dabei, sie seien nicht gegen Europa an sich, sondern in erster Linie gegen dessen neoliberale Version. Ein wichtiger Punkt ist etwa, dass die Franzosen fürchten, dass der Mindestlohn, den es in Frankreich gibt, durch EU-Regeln unterlaufen werden könnte. "Wenn man die Franzosen glücklich machen wollte, müsste man einen europäischen Mindestlohn einführen", sagt Schwarzer.
Rechte hetzen gegen Türkei-Beitritt
Auf der Linken erhält das Nein-Lager der Sozialisten Unterstützung von den Kommunisten - auf der extremen Rechten wettern Jean-Marie Le Pen von der Front National und Philippe de Viliers vom "Mouvement pour la France" gegen Brüssel. Die Rechten schüren dabei vor allem Ängste vor einem raschen Beitritt der Türkei zur EU. Ebenso wie die liberale UDF stützt die Mehrheit der Regierungspartei UMP die EU-Verfassung. Wenn UMP-Politiker die Verfassung attackieren, bemängeln sie daran weniger die wirtschaftlichen Auswirkungen der Verfassung, sondern warnen vielmehr davor, dass Frankreich gegenüber Brüssel an Souveränität einbüßen könnte.
Wie Brüssel reagieren will
Unklar ist, wie Brüssel auf ein "Nein" der Franzosen reagieren könnte. Zwar versichern bisher alle EU-Spitzenpolitiker, dass es noch keinen "Plan B" gebe. Dennoch wird fieberhaft überlegt, wie es nach dem GAU weitergehen könnte. Rechtlich würde weiterhin der ungeliebte Vertrag von Nizza als Arbeitsgrundlage gelten, dessen System für eine EU mit 25 oder gar 27 eigentlich nicht geeignet ist. Die EU-Staaten könnten, dass Ratifikationsverfahren zunächst einfach fortsetzen - schon am 1. Juni steht das Referendum in den Niederlanden an, um dann nach der Ratifikationsrunde zu entscheiden, wie es weitergehen soll mit der Verfassung. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass alle anderen Länder das Verfahren trotz des "Neins" der Franzosen auch durchziehen. Gerade im Fall des euroskeptischen Großbritanniens ist das jedoch keineswegs sicher. Dort tut sich Premier Tony Blair ohnehin schwer mit dem Referendum, das für das Frühjahr 2006 angepeilt ist. Für die Regierung wäre die Verlockung groß, die Abstimmung nach einem französischen "Nein" einfach abzublasen.
Krisengipfel als mögliche Reaktion
EU-Experten spekulieren derzeit über eine Hintertür-Variante für die Verfassung. Teile des Textes könnten einfach über Änderungen der Geschäftsordnungen der Institutionen oder Vereinbarungen zwischen den Institutionen umgesetzt werden. Rechtlich ginge das wohl. Fraglich wäre nur, ob es politisch sinnvoll sein kann, Vorschläge, die Bürger eindeutig abgelehnt haben, hintenrum doch noch umzusetzen. Dem Ansehen Brüssels würde das eher schaden. Andere Experten raten, das Ratifikationsverfahren erst einmal durchzuziehen und dann einen speziellen Gipfel der Staats- und Regierungschefs einzuberufen, um das weitere Vorgehen festzulegen. So ein Mechanismus ist in dem Verfassungsvertrag vorgesehen. Auf so einem Gipfel könnte etwa beschlossen werden, die Franzosen noch einmal über den Vertrag abstimmen zu lassen.
Drohende Kehrtwende in der französische Europapolitik
Noch jedoch will in Brüssel niemand ein derartiges Szenario öffentlich diskutieren. Im Gegenteil. In der EU-Hauptstadt bemüht man sich derzeit darum, den skeptischen Franzosen bloß keine Angriffsfläche zu bieten, den Kopf einzuziehen und darauf zu hoffen, dass wider Erwarten doch alles gut geht. Auch in Berlin beobachtet man die Vorgänge in Frankreich dabei mit einem mulmigen Gefühl. Sollten die Franzosen die Verfassung ablehnen, könnte das nicht nur eine Krise der EU bedeuten, sondern auch, dass Paris urplötzlich ein neues, ein völlig anderes Europa fordert, ein sozialeres Europa. "Bei einer Abstimmungsniederlage würde Chirac sagen: Wir wollen Europa immer noch, aber ein anderes", sagt Frankreich-Expertin Schwarzer voraus. Spätestens dann müsste sich auch Berlin ernsthaft Gedanken darüber machen, welche unkontrollierbaren Kräfte die französische Kernspaltung freigesetzt hat.