Wie weit darf Victor Orban noch gehen? Darf die Regierung in Polen die Unabhängigkeit des Justizsystems noch weiter aushöhlen? Und was können die anderen Europäer eigentlich dagegen tun? Ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat nun festgeschrieben, wie ein EU-Mitgliedsland bestraft werden darf, wenn es gegen unverrückbare Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstößt.
Die "Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit", der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus, ist seit 2021 beschlossen. Er sieht vor, dass die Auszahlung von EU-Geldern davon abhängig gemacht wird, ob der Zahlungsempfänger sich an rechtsstaatliche Prinzipien hält. Gegen dieses Prinzip hatten Ungarn und Polen vor dem EuGH geklagt und sind nun gescheitert Die Folgen des Urteils sind beachtlich.
Orban, Putin, Alijew – Autokraten lieben die EM

Worum ging's in dem Fall?
Polen und Ungarn erhalten jedes Jahr Milliarden aus dem EU-Haushalt. Kritiker werfen beiden Ländern jedoch vor, sich die Justiz zum Untertan zu machen und gegen andere Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verstoßen. Seit Jahren streitet sich die EU-Kommission mit den Regierungen in Budapest und Warschau über Minderheitenrechte, Justizreformen und Korruptionsvorwürfe. Die EU hatte sich mit dem Rechtsstaatsmechanismus deshalb ein Instrument zugelegt, das Verstöße ahnden soll, wenn dadurch ein Missbrauch von EU-Geld in einem Land droht. Dagegen hatten Polen und Ungarn geklagt.
Was hat der EuGH entschieden?
Die Richter in Luxemburg haben die Klagen der beiden betroffenen Länder abgewiesen und festgestellt, dass die EU mit dem Mechanismus nicht ihre Zuständigkeit überschreite. Das Ziel der Verordnung sei nicht, Verstöße gegen den Rechtsstaat zu ahnden – sondern vielmehr der Schutz des EU-Haushalts, der durch etwaige Verstöße gefährdet sein könnte. Zudem betonten sie, dass die EU auf dem Vertrauen der Mitgliedsstaaten gründe, dass diese die gemeinsamen Werte achten. Also müsse die EU auch in der Lage sein, diese Werte zu verteidigen. Zudem sehe die Verordnung ein strenges Verfahren vor, bei dem betroffene Länder mehrfach die Gelegenheit zur Stellungnahme haben.
Wie reagieren Polen und Ungarn auf den Richterspruch?
In Polen stieß das Urteil auf scharfe Kritik. Die EU wandele sich von einem Raum der Freiheit zu einem Raum, wo man rechtswidrig Gewalt anwenden könne, um den Mitgliedsstaaten die Freiheit zu nehmen und ihre Souveränität einzuschränken, sagte Justizminister Zbigniew Ziobro. Auch Ungarn warf der EU Machtmissbrauch vor. Das Gericht habe einen "politisch motivierten Spruch" gefällt", schrieb Justizministerin Judit Varga am Mittwoch auf ihrem Twitter-Konto. "Die Entscheidung ist ein lebender Beweis dafür, wie Brüssel seine Macht missbraucht."
Müssen Polen und Ungarn demnächst tatsächlich auf EU-Milliarden verzichten?
Das ist unklar. Der Rechtsstaatsmechanismus ist zwar seit 2021 beschlossen, die EU-Kommission wollte aber noch das Urteil der EuGH-Richter abwarten, ehe sie ihn in Kraft setzt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, das Urteil und seine Folgen zunächst gründlich zu analysieren und in den kommenden Wochen konkrete Leitlinien zur Anwendung des Mechanismus zu beschließen.
Allerdings wächst der Druck auf von der Leyen mit dem Urteil beträchtlich. Vor allem das Europaparlament drückt aufs Tempo. Die SPD-Abgeordnete Katarina Barley sagte, die EU-Kommission könne sich nun nicht mehr drücken. Daniel Freund (Grüne) zufolge nimmt das Urteil von der Leyen die letzte Ausrede. Und FDP-Politiker Moritz Körner warnte: "Der Rechtsstaat in Europa brennt." Mit jedem Tag, an dem sie den Mechanismus nicht anwende, mache von der Leyen sich mitschuldig.
Wie geht es jetzt weiter?
Sollte von der Leyen grünes Licht geben und den Mechanismus in Kraft setzen, müssten am Ende mindestens 15 der 27 EU-Länder, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, einer Kürzung der Mittel zustimmen. Gegen ein schnelles Vorgehen könnten allerdings politische Erwägungen sprechen. Warschau hatte zuletzt Signale der Entspannung nach Brüssel gesendet. Und in Ungarn steht Anfang April eine Parlamentswahl an. Sollte die EU-Kommission vorher gegen die rechtsnationale Regierung vorgehen, könnte das als Wahlkampfeinmischung verstanden und vom populistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zum eigenen Vorteil genutzt werden.
Doch selbst, wenn es mit der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus noch dauert – die EU-Kommission hat noch ein anderes Druckmittel gegen Ungarn und Polen in der Hand. Bislang hat die Behörde wegen rechtsstaatlicher Bedenken noch keine Milliarden aus dem Corona-Hilfsfonds für beide Länder freigegeben.
Quellen: mit Material von DPA, AFP