Es ist der 21. November, als Eva Kaili ihre letzte große Rede im Europäischen Parlament hält. Darin findet die griechische Parlamentsvizepräsidentin lobende Worte für die großen Fortschritte, die das WM-Gastgeberland Katar angeblich in Sachen Arbeitsrechte gemacht habe – und verteidigt zugleich ihre eigene Reise in den Wüstenstaat, der wegen der Menschenrechtslage und seinem Umgang mit Gastarbeitern massiv in der Kritik steht. Wie zynisch es doch sei, kritisiert sie, jeden, der in Kontakt mit Katar stünde, gleich der Korruption zu verdächtigen.
Keine drei Wochen später – das Turnier läuft noch – steht Kaili selbst unter schwerem Korruptionsverdacht.
Am Freitag wurde die 44-jährige Abgeordnete im Zuge mehrerer Hausdurchsuchungen zur möglichen Einflussnahme Katars auf Politiker in Brüssel festgenommen. In ihrer Wohnung seien "Säcke voller Bargeld" gefunden worden, das mutmaßlich aus Katar stammt, sie sei "in flagranti" erwischt worden, heißt es in belgischen Medien. Neben Kaili wurden inzwischen fünf weitere Parlamentsmitarbeiter verhaftet, darunter ihr italienischer Lebensgefährte Francesco Giorgi, mit dem sie eine zweijährige Tochter hat. Ihnen wird nun "Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche und Korruption" vorgeworfen.
Der Skandal erschüttert die Glaubwürdigkeit des Europaparlaments – mit einer Frau im Zentrum, die selbst als aufstrebender Stern der griechischen und europäischen Politik galt.
Der rasante Aufstieg der Eva Kaili
In Griechenland kennt jeder ihren Namen. Mit gerade einmal 20 Jahren wird Eva Kaili zur Stadträtin in ihrer Heimatstadt Thessaloniki gewählt. Nach ihrem Abschluss in Architektur studiert sie internationale und europäische Beziehungen – unter anderem an der Elite-Universität Harvard – und geht später auf eine Journalistenschule. Spätestens ab 2004 ist Kaili als TV-Nachrichtenmoderatorin für "Mega Channel", einem großen Privatsender, nicht mehr aus dem Rampenlicht wegzudenken.
Drei Jahre später wechselt sie in die Politik und zieht im Alter von 29 Jahren als jüngste Abgeordnete der sozialistischen Pasok-Partei ins griechische Parlament ein. Schon damals macht sie sich mit Interviews zu ihrem krisengebeutelten Heimatland über die Landesgrenzen hinweg einen Namen. Es seien lauter Vorurteile, dass die Menschen in Griechenland geborene Steuerhinterzieher und faul seien, verteidigt sie ihre Landsleute gegen das Bild im Rest Europas.
2014 folgt der Wechsel ins Europaparlament. Dort macht die Griechin mit ihren Fähigkeiten – "Politico" führt sie 2018 auf einer Liste der EU-Abgeordneten mit dem größten Einfluss – aber auch ihren Querschüssen gegen die eigene Parteilinie auf sich aufmerksam. Als die Regierung in Athen den jahrelangen Namensstreit mit Nordmazedonien beilegt, spricht sie von einem "irreparablen Schaden für die Geschichte, Mazedonien und die Griechen". 2019 kritisiert sie Hilfszahlungen der linken Regierungspartei Syriza zur Bewältigung der Folgen der langjährigen Wirtschaftskrise mit den Worten, Sozialleistungen seien etwas "für Faulenzer".
Im Januar 2022 erreicht Kaili den Höhepunkt ihrer politischen Karriere, als sie zu einer von 14 Vizepräsidentinnen und -präsidenten des Europaparlaments gewählt wird. Es dürfte zugleich ihre Endstation gewesen sein.
Die EU-Parlamentsvize und der Fall Katar
Bei den laufenden Korruptionsermittlungen geht es um den Verdacht, dass Katar mit beträchtlichen Geldsummen und Geschenken versucht hat, Entscheidungen des Europaparlaments zu beeinflussen. Laut der Staatsanwaltschaft in Brüssel wurden bei den Durchsuchungen insgesamt 600.000 Euro Bargeld, sowie mehrere Handys und Laptops beschlagnahmt. Begünstigte seien dabei Persönlichkeiten mit einer "politisch und/oder strategisch bedeutenden Position" im EU-Parlament – also jemand wie Eva Kaili, die neben ihrer Funktion als Parlamentsvize zudem stellvertretendes Mitglied der Delegation für die Arabische Halbinsel ist.
Konkret wird auf EU-Ebene derzeit darüber debattiert, die Visa-Regeln für katarische Staatsbürger zu erleichtern. Kaili habe in der Sache zuletzt viel Kontakt zu ihm gesucht, schildert nun der dafür zuständige Grünen-Abgeordnete Erik Marquardt der Nachrichtenagentur DPA. Ihr sei wichtig gewesen, dass die Entscheidung zügig getroffen werde und nicht so viele Bedingungen an Katar gestellt würden.
Kaili selbst ist kein Mitglied im zuständigen Innenausschuss – stimmte jedoch am 1. Dezember ohne Absprache mit ihrer Fraktion zu dem Thema ab. Nun soll die Position des Ausschusses zur Visa-Liberalisierung noch einmal überarbeitet werden.
Der Korruptionsskandal und seine Folgen
Kurz nach ihrer Verhaftung geht es Schlag auf Schlag: Die Pasok-Partei distanziert sich umgehend und verkündet, Kaili sei "aus der Partei ausgeschlossen". Der Parteivorsitzende Nikos Androulakis erklärt später, die Abgeordnete verhalte sich "wie ein trojanisches Pferd" der derzeit in Athen regierenden konservativen Nea Dimokratia. Er habe ihr mitgeteilt, "dass sie bei den nächsten Europawahlen nicht mehr für unsere Partei kandidieren wird".
Im Europaparlament werden ihr von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola all ihre Befugnisse entzogen. "Unser Parlament steht entschieden gegen Korruption", twittert Metsola. Zuvor hat die sozialdemokratische Fraktion bereits ihre Mitgliedschaft suspendiert. Schockiert und wütend äußern sich auch viele Politikerinnen und Politiker über den Skandal, der das Parlament in keinem guten Licht dastehen lässt (lesen Sie hier die Reaktionen im Überblick).
Am Montag folgt dann die Nachricht, dass die griechischen Behörden im Zuge der Ermittlungen sämtliche Vermögenswerte von Kaili eingefroren haben: "Bankkonten, Schließfächer, Firmen und alle anderen Vermögenswerte", wie die griechische Anti-Geldwäsche-Behörde verkündet. Am Nachmittag hat Parlamentspräsidentin Metsola die Fraktionsvorsitzenden zudem zu einem informellen Treffen geladen, bei dem es "um Kailis Absetzung und weitere Schritte" gehen soll.
Für den einstigen Polit-Shootingstar dürfte es also erst der Anfang vom Ende sein.
Quellen: "NY Times", "BBC", "Süddeutsche Zeitung", "ntv", mit DPA und AFP-Material