Die Hinweise auf einen Korruptionsskandal im Europaparlament sorgen bei Politikern und Politikerinnen über Parteigrenzen hinweg für Bestürzung und Rufe nach entschlossenen Reaktionen: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe die Berichte darüber "mit dem erwartbaren Entsetzen" zur Kenntnis genommen, "dass so etwas offenbar möglich ist", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Es dürfe "keine Vorverurteilungen geben", sollten sich die Berichte allerdings bestätigen, wäre dies "ein sehr ernster Vorgang". Dieser müsse dann auf Ebene des EU-Parlaments und "nicht von einzelnen Nationalstaaten" diskutiert werden.
Im Zuge von Ermittlungen zu einer möglichen Einflussnahmen des Golfemirats Katars auf europäische Politiker waren am Freitag die griechische EU-Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili und mehrere Parlamentsmitarbeiter festgenommen worden. Kaili steht unter Verdacht, Geld kassiert zu haben, damit sie für das WM-Gastgeberland Einfluss auf politische Entscheidungen nimmt. So wird derzeit beispielsweise auf EU-Ebene in Erwägung gezogen, die Visa-Regeln für Staatsbürger von Katar zu erleichtern.
Politiker fordern Untersuchungsausschuss zu Eva Kaili und Katar
"Das ist wirklich ein unglaublicher Vorfall. Der muss jetzt ohne Wenn und Aber aufgeklärt werden mit der vollen Härte des Gesetzes", forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am Rande eines Treffens mit Kolleginnen und Kollegen der anderen EU-Mitgliedstaaten in Brüssel. In dem Fall gehe es auch um die Glaubwürdigkeit Europas. "Und entsprechend müssen dann in unterschiedlichen Bereichen Konsequenzen folgen." Details dazu nannte die Grünen-Politikerin nicht. "Jetzt geht es vor allem um die restlose Aufklärung", ergänzte sie lediglich. "So was, das haben wir lange nicht erlebt."
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte die Vorwürfe gegen Kaili "sehr schwerwiegend". Die EU brauche "die höchsten Standards" bei Unabhängigkeit und Integrität. "Meiner Meinung nach wäre es richtig, dass wir ein Ethikgremium einrichten", wie es die EU-Kommission bereits habe. Von der Leyen verwies auf Gespräche, die sie bereits im März mit einem Schreiben an alle anderen EU-Institutionen angestoßen habe. Es gehe um "klare Regeln, klare Standards" und "die gleichen Kontrollmechanismen" für alle. Dies betreffe nicht nur den Rat der Mitgliedsländer und das Europaparlament, sondern etwa auch die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main und den Europäischen Rechnungshof.
Die Vorgänge seien traurig, unglaublich und auch Grund genug für Kaili, "ihren Posten sofort zu räumen", sagte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff der "Bild"-Zeitung. Bisher ist die 44-Jährige lediglich von ihren Aufgaben freigestellt. Der Grünenpolitiker Reinhard Bütikofer erklärte: "Korrupte Personen haben als Mitglieder oder Mitarbeiter im Europäischen Parlament keinen Platz." Er empfinde Zorn und Bitterkeit, "weil schamloses Handeln Einzelner die ganze Institution zu beschädigen droht".
Der EU-Parlamentarier Dennis Radtke (CDU) sagte "Bild": "Die Scheichs aus Katar kaufen nicht nur für 200 Milliarden Dollar eine Fußball-WM und deren geldgierige Funktionäre und Protagonisten, jetzt machen sie auch vor Politikern nicht halt. Wer so vorgeht, will sich die Welt kaufen. Und leider ist das jetzt in Europa gelungen, im Europäischen Parlament, in dem die gewählten Vertreter von 27 Nationen sitzen."
Gegen-WM, Schiebereien, Katastrophen: So umstritten waren frühere Fußball-Weltmeisterschaften

Radtke betonte, er befürchte "den größten Korruptionsskandal der europäischen Politik, wenn bei den Festgenommenen zu Hause schon Tüten mit Geldscheinen von mehreren 100.000 Euro gefunden wurden". Man müsse davon ausgehen, "dass noch viel mehr aufgedeckt wird". Er forderte die EU-weite Überprüfung und Erweiterung der Transparenz- und Lobbyregeln für Drittstaaten und von ihnen gegründeten Lobbyfirmen sowie einen Untersuchungsausschuss zur Klärung der Vorwürfe gegen Kaili.
Den hält auch die Co-Chefin der Grünenfraktion im Europaparlament, Terry Reintke, für notwendig. "Der Schaden ist für das gesamte Europäische Parlament entstanden, deshalb muss der demokratische, proeuropäische Teil des Parlaments mit sehr großer Klarheit reagieren", verlangte sie gegenüber der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel. Zu den Details müsse man sich noch mit den anderen Gruppen abstimmen, aber ihrer Meinung nach wäre etwa ein Untersuchungsausschuss wichtig. Alles zu dem Korruptionsskandal, der das Parlament seit Freitag erschüttert, müsse ans Licht. Außerdem könnten etwa Schritte gegen Drittstaaten-Lobbyismus oder für mehr Transparenz von Abgeordneten unternommen werden.
Kaili und ihr Lebensgefährte laut Medienberichten in U-Haft
Bei dem Skandal steht neben dem Vorwurf der Bestechung und Bestechlichkeit auch der Verdacht der Geldwäsche im Raum. Kaili wurde von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola am Wochenende von all ihren Aufgaben entbunden. Bislang war sie eine von insgesamt 14 Stellvertretern. Formell muss die Entscheidung vom Parlament noch bestätigt werden. Die sozialdemokratische Fraktion – zu der auch die SPD-Abgeordneten gehören – suspendierte bereits ihre Mitgliedschaft. Ihre Partei schloss sie aus.
Neben Kaili wurden auch ein ehemaliger sozialdemokratischer Europa-Abgeordneter aus Italien, Antonio Panzeri, sowie der italienische Lebensgefährte der 44-Jährigen festgenommen. Wie die Zeitung "Le Soir" und das Magazin "Knack" am Sonntag berichteten, kamen beide wie Kaili in U-Haft ins Gefängnis. "Sie werden der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, der Geldwäsche und der Korruption beschuldigt", teilte die Staatsanwaltschaft mit. Zwei weitere Festgenommene ließ der Untersuchungsrichter frei. Am Samstagabend wurde das Haus eines weiteren Europa-Abgeordneten durchsucht. Medienberichten zufolge handelt es sich um den belgischen Sozialdemokraten Marc Tarabella. Seine Partei teilte am Sonntagabend mit, Tarabella vor ein parteiinternes Gremium zitiert zu haben.

Bei den Durchsuchungen in Brüssel wurden am Freitag insgesamt 600.000 Euro Bargeld und Handys beschlagnahmt. Später fanden Ermittler in Kailis Wohnung Medienberichten zufolge Taschen voller Bargeld.
Der WM-Gastgeber Katar steht seit Jahren wegen der Menschenrechtslage und der Bedingungen für ausländische Arbeiter in der Kritik. Zahlreiche Mitglieder des damaligen Fifa-Exekutivkomitees, das 2010 die WM nach Katar vergeben hatte, sind inzwischen der Korruption überführt. Katar selbst hat den Vorwurf der Bestechung jedoch stets bestritten.