Er hatte schon einen schlechten Eindruck von den australischen Behörden, als er am Dienstag vergangener Woche wie jeden Abend bei seiner Frau in Norwegen anrief. Die Küstenwache hatte Arne Rinnan Stunden zuvor gebeten, ein paar Schiffbrüchigen zu helfen. Denn sein Frachter, die 44 000 Tonnen schwere "Tampa", befand sich zu jenem Zeitpunkt auf dem Weg von Freemantle nach Singapur. In dem Hafen an der australischen Westküste hatten sie fabrikneue deutsche Autos abgesetzt und Container mit Konsumgütern geladen.
Rettungsaktion in schwerer See
Als Kapitän Rinnan den Funkspruch der Küstenwache empfing, war sein Schiff noch vier Stunden von einem in Seenot geratenen Boot entfernt - näher als jedes andere. Bald darauf entdeckte die "Tampa" das vor sich hintreibende zwanzig Meter lange Holzschiff. Auf Deck kauerten jedoch nicht 80 Menschen eng beieinander, wie die Küstenwache gefunkt hatte. Rinnan und seine Besatzung fanden 438 Männer, Frauen und Kinder, ausgezehrt von der tropischen Sonne, voller Angst oder schon der Ohnmacht nahe, kurz davor, mit dem hoffnungslos überladenen Boot unterzugehen. Ohne zu Zögern entschloss sich die Besatzung der "Tampa" zu einer Rettungsaktion in schwerer See. "Als wir begannen, die Leute an Bord zu heben, fing das Boot an, an beiden Seiten auseinanderzubrechen", berichtete der Kapitän kurz darauf. Und er konnte nicht fassen, dass die Australier ihm so ungenaue Information gegeben hatten.
Die meisten der Aufgenommenen, erzählte Rinnan seiner Frau Grethe am Telefon, stammten aus Afghanistan. Sie seien aus politischen Gründen vor den Taliban geflohen. Ihr Anführer sei ein Lehrer. Es handele sich durchweg um gebildete Menschen. Der Gesundheitszustand der Flüchtlinge war erbärmlich. Zwölf, hieß es im Logbuch-Eintrag der "Tampa", den der Kapitän an die Reederei nach Oslo übermittelte, waren ohnmächtig, die Kinder litten an schwerer Diarrhöe, ein Mann hatte ein Bein gebrochen. Zwei Frauen waren schwanger.
Einige der Afghanen seien in bedrohlicher Haltung auf ihn zugekommen und hätten verlangt, nicht in Indonesien, sondern unbedingt in australischem Hoheitsgebiet an Land gebracht zu werden. Aber das habe ihn nicht beeindruckt, versicherte Rinnan. Wie es sich gehört, nahm er Kurs auf den nächstgelegenen sicheren Hafen - die Weihnachtsinsel, 500 Kilometer vor der indonesischen Küste. 1958 hatte Australien sie von Singapur gekauft, um die Phosphat-Vorkommen des Eilands auszubeuten. So begann Anfang der vergangenen Woche ein Flüchtlingsdrama, in dessen Verlauf Australiens Politiker bald als menschenverachtende Rassisten dastanden, der Norweger Arne Frode Rinnan aber als Verkörperung von Anstand und Zivilcourage in einer herzlosen Welt.
Behörden stellten sich taub
Anderthalb Tage lang hatte Rinnan mit seinem Schiff außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone auf die Erlaubnis gewartet, in die australischen Hoheitsgewässer einzufahren, um die Menschen an Land zu bringen. Vergeblich. Dann setzte er aus Sorge um die Kranken unter den Flüchtlingen ein "Pan-Pan"-Signal ab, den internationalen Seenotruf, wenn dringende Hilfe geboten ist. Noch immer antworteten die Australier nicht. Da entschloss sich der 60-jährige Kapitän auf seiner letzten großen Fahrt, aus Sorge um das Leben der Menschen an Bord, "Mayday-Mayday" zu funken. Wieder stellten die Behörden sich taub. Und der Hafenmeister auf der Weihnachtsinsel, den sie schließlich ans Telefon bekamen, warnte den Norweger nur: "Sollten Flüchtlinge von Bord in das Hai verseuchte Meer springen, müssen Sie die Konsequenzen tragen." Rinnan fuhr mit der "Tampa" bis auf vier Seemeilen an die Weihnachtsinsel heran. Dann endlich reagierte Australien. Es schickte das Militär.
Doch selbst als 50 schwer bewaffnete Elitesoldaten der "Special Air Service" das norwegische Schiff auf Geheiß ihres Premiers John Howard enterten, um die "Tampa" in internationale Gewässer herauszufahren, verweigerte Arne Frode Rinnan jegliche Kooperation. Stattdessen kündigte er an, er werde gegen den australischen Staat Strafanzeige wegen Piraterie stellen, sollte man sein Schiff unter Waffendrohung in internationale Gewässer zurückzwingen. Die "Tampa" sei nur für 40 Personen zugelassen, für weitere Passagiere fehle es an Unterkunftsmöglichkeiten und Rettungsausrüstung. Was er hier erlebe, bekannte Rinnan per Telefon, sei das Schlimmste in 45 Jahren auf See.
Geboren 1940 in Oslo, war Arne Rinnan seit seinem 16. Lebensjahr zur See gefahren. 1958 hatte er bei Wilhelmsen angeheuert und es dort vom Schiffsjungen zum Kapitän gebracht. 1992 wurde er mit der Goldmedaille des Norwegischen Reeder-Verbands ausgezeichnet. Ein angesehener, ruhiger und kompetenter Mann mit ausgeprägtem Sinn für Humor. Selbst als der Nervenkrieg mit Australiens Regierung die schlimmsten Befürchtungen schürte, "eröffnete und beendete er jedes Telefonat mit einer flapsigen Bemerkung", sagt Hans Christian Bangsmoen, der Informationsdirektor der Reederei. Auch die Crew hielt er bei Laune, obwohl ihm das Drama an Bord seines Schiffes ebenso nahe ging wie der Mannschaft.
"Schon komisch", sagt Rinnans Sohn Lars-Petter, "wenn plötzlich der eigene Vater im Fernsehen und auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint und in großen Schlagzeilen gefeiert wird. Dabei hat er nur das gemacht, was er immer gemacht hat, seine ganz normale Arbeit. Er hat getan, was er tun musste. Hätten sich auch die Australier so verhalten, hätten auch sie getan, was richtig ist, und die Schiffbrüchigen gleich an Land gelassen, wäre das Flüchtlingsdrama keine Nachricht gewesen." So wie die Tausenden von Hoffnungslosen, die täglich irgendwo in der Welt stranden, nie eine Meldung wert sind, oder auch die blinden Passagiere, mit denen sein Vater an Bord immer wieder zu tun hatte. "Sind sie erst einmal entdeckt, werden sie in einer Kabine untergebracht und dann im nächsten Hafen den Behörden übergeben.
Staunen in der Nachbarschaft
In Kongsberg, zwei Autostunden südlich von Olso, wo Rinnan mit seiner Familie wohnt, ist er nur wenigen bekannt. Selbst Nachbarn staunten, als sie in der Zeitung die Nachrichten von der "Tampa" und ihrem standhaften Kapitän lasen. "Weder meine Mutter noch ich hatten eine Ahnung, wer da in unserer Straße wohnt", sagt Tine Kvisle Sletteröd, die in den Semesterferien kellnert, um ihr Studium in London zu finanzieren. Als "local hero", als Held des Ortes, werde Kapitän Rinnan nicht angesehen, sagt sie. "Aber er hat verantwortungsbewusst gehandelt, ist das nicht viel besser?"
Auch Bürgermeister Morten Eriksröd hatte noch nie von Arne Rinnan gehört. Dabei ist Kongsberg mit seinen 23.000 Einwohnern ein übersichtlicher Ort. Wie viele Asylsuchende oder Flüchtlinge in seiner Stadt leben, will er nicht sagen. Er besteht auf der Formulierung "Leute mit ethnischem Hintergrund" und nennt dann die Zahl: 1500 bis 2000. 30 bis 40 pro Jahr kommen nach Kongsberg, wenn sie Auffanglager und Integrationszentren anderswo in Norwegen durchlaufen haben. In den siebziger Jahren waren es überwiegend Chilenen, in den letzten zehn Jahren Menschen aus Somalia, Iran und Irak. Die Flüchtlinge bekommen meist einen Job vermittelt, die Arbeitslosenquote in der Stadt beträgt ganze 1,5 Prozent. Und wer im Ort keine Beschäftigung findet, kann immer noch das tun, wofür Norweger seit Jahrhunderten berühmt sind - zur See fahren.
Von den 27 Crew-Mitgliedern der "Tampa" stammen zehn aus Norwegen. Obersteuermann Christian Maltau, 33, ist aus Tromsö. Der erste Steuermann, eigentlich eine Frau, Grete Brugge, mit ihren 26 Jahren schon die dritte in der Kommandostruktur, stammt aus Ornes i Sogn. Sie hätte eigentlich schon am Dienstag vergangener Woche abgelöst werden sollen, von Singapur aus wollte sie zum Heimaturlaub fliegen.
Doch das Flüchtlingsdrama hat nicht nur den Ablöse-Fahrplan der "Tampa" durcheinandergebracht. Das 262 Meter lange Schiff, das 1200 Fahrzeuge fasst und 2451 Container, hatte auch Fracht an Bord, die dringend in Manila, Bangkok und Rotterdam erwartet wird. Den Ausfall wollte die Reederei während des Flüchtlingsdramas nicht beziffern. "Erst einmal haben wir wichtigere Probleme zu lösen", sagte Informationsdirektor Bangsmoen. Die "Tampa" werde ihre Ladung anschließend, so schnell es gehe, ausliefern. Die Reederei charterte zur Sicherheit einen Frachter, der vorausfuhr und eilige Container in den noch anzulaufenden Häfen aufnahm.
Australische Politiker fordern hartes Vorgehen
Denn auf der "Tampa" ging während dessen das nervenaufreibende Warten in die zweite Woche. Australische Menschenrechtsgruppen riefen die Gerichte ihres Landes an, um es doch noch zur Aufnahme der Flüchtlinge zu zwingen. Die Politiker in der Hauptstadt Canberra forderten quer durch alle Parteien ein hartes Vorgehen gegen die illegalen Eindringlinge. Denn keiner wollte nur Monate vor den anderen die Einwanderungspolitik als Thema überlassen.
Schwer bewaffnete Soldaten in brauner Camouflage-Uniform sicherten derweil die Reling der "Tampa", damit niemand ins Wasser sprang, während in zwei Meilen Entfernung ein Marineschiff lauerte. Und vom Strand der Weihnachtsinsel schauten die 1500 Einwohner immer wieder aufs Meer hinaus zu dem rot-weißen Schiff am Horizont. Denn so sehr die Politiker in der fernen Hauptstadt Canberra auch die Hartnäckigkeit des norwegischen Kapitäns verfluchen mochten, auf der Insel hatten sie ihn längst zum Helden erkoren.
So wollen die Geschäftsleute der Weihnachtsinsel Kapitän Arne Rinnan einfliegen lassen, sobald das Flüchtlingsdrama beendet ist. "Er ist Teil unseres Lebens geworden, unserer Gemeinschaft. Wie enttäuscht muss er sein von der Moral unserer Politiker!", sagte Mike Asims, der mit seinem Jeep an der Bucht stand und auf den Ozean hinaussah. Dass zum ersten mal seit Jahrzehnten Soldaten ihren Fuß auf die Insel gesetzt hatten, mochte er gar nicht. "Den Kapitän werden unsere Militärs mit ihrer Schau nicht klein kriegen. Der Mann verdient einen Höllenrespekt.
"Die meisten Menschen, die hier wohnen, sind chinesischer und malayischer Abstammung. Das Leben verläuft gemächlich, vor allem seit indonesische Investoren vor ein paar Jahren das Spielkasino aufgaben, das sie betrieben hatten. Den letzten Mord gab es vor fünf Jahren. Ab und an kommen Tauchtouristen aus Japan oder Deutschland. Sonst sind es vor allem Flüchtlinge.
In brüchigen Fischtrawlern übers Meer
Seit Jahren stranden sie hier. Ihre Zahl ist in letzter Zeit enorm gestiegen. 1600 Menschen registrierten die eingeflogenen Immigrationsbeamten seit Mai, die meisten aus Nahost. Menschenschmuggler brachten sie von Indonesien in meist brüchigen Fischtrawlern übers Meer. Bei Vernehmungen sagten die Flüchtlinge aus, sie hätten 5000 Dollar für ihre Fahrt bezahlt. Tickets für die besseren Boote kosten mehr, und nur diese Boote sind ausgestattet mit fabrikneuen Motoren, Navigationssystem und Schwimmwesten.
Die "KM Palapa 1", jenes ausgediente indonesische Fährschiff, deren SOS-Signal nun die "Tampa" alarmierte, war stundenlang mit Motorproblemen in rauher See getrieben. Bei der Rettungsaktion schlug es an die Bordwand des Frachters und begann zu bersten.
Keineswegs nur arme Bauern
Die Flüchtlinge, denen die Norweger das Leben retteten, dürften sich kaum unterscheiden von denen, die sonst nach Christmas Island kommen. Es seien keineswegs arme, ungebildete Bauern, sagt Mike Assims. Anwälte, Ärzte, Geistliche, Militärs, Lehrer seien darunter. Mehr Männer als Familien. Die Jungen sprächen mindestens ein paar Brocken Englisch. Boat-People aus dem Irak gelten als besonders selbstbewusst. "Die fragen, wann das Flugzeug kommt, dass sie aufs Festland fliegt."
"Selbst wenn sie zwei, drei Tage auf Booten waren, auf denen es Ratten gibt und nach Kot und Urin stinkt, tragen sie oft korrekte Haarschnitte und sind frischrasiert. Einmal kam sogar ein Mann im dreiteiligen Anzug an Land", erzählt Asims. Ankömmlinge aus Afghanistan seien hilfloser. Eine verschleierte Frau aus Kabul drückte dem ehemaligen Manager einer Firma, die für die australische Regierung Träger-Raketen von der Weihnachtsinsel ins All schießen wollte, im vergangenen Jahr noch im Meer ihr Baby in die Hand. Sie war sehr schwach. "Ich stiefelte also mit dem Kleinen an Land. Zwei Wochen alt. Das Kind hat dabei gelacht."
Wann immer so eine Bootsfracht mit menschlicher Fracht aus Afghanistan, Irak, Iran oder Sri Lanka ankam, packt die halbe Insel mit an. Die Chinesen in der Bäckerei backen 200 Laibe Brot am Tag mehr. Ohne allzu viel Murren werden die Regale des Supermarktes geleert, obwohl der nur alle sechs Wochen per Schiff mit Lebensmitteln beliefert wird. Rund 500 Flüchtlinge können auf dem Betonboden in der Sporthalle lagern - so lange, bis ein Schiff oder Flugzeuge kommt, um sie in die Lager auf dem Festland zu bringen.
Neuerdings stehen im Zentrum am Hauptstrand, dreihundert Meter neben der alten Phosphatfabrik, auch 46 Zelte. "Die Flüchtlinge der Tampa würden wir genauso problemlos abfertigen wie die 359, die vier Tage vor ihnen hier ankamen", sagt der Mechaniker Stuart Finch. Die Gruppe wurde von ihrem brüchigen Holzkahn auf Barkassen verfrachtet, die ein Krahn zehn Meter hoch auf den Pier hievte. Die beiden Schulbusse der Insel transportierten sie zu den Zelten. "Einer kam mit Krücken und einem amputierten Bein. Ein Minenopfer."
Schiffsfriedhof im Java-Graben
Am Mittwoch der vergangenen Woche, dem Tag, als die "Tampa" vor der Weihnachtsinsel den Anker warf, wurden die letzten dieser Gruppe mit Hercules-Transportflugzeugen ausgeflogen: "Ihr Boot haben wir acht Meilen raus mit 150 Kilogramm Ammoniak-Nitrat gesprengt", sagt Stuart Finch. "Da bleibt nicht eine Planke ganz." Im Meer, das hier am Java-Graben mehr als drei Kilometer tief ist, liegen mittlerweile die Reste von etwa 50 Kuttern. Die Weihnachtsinsel ist ein idealer Ort für alle auf dem Weg ins gelobte Land.
Von dort werden die Flüchtlinge schnell nach Süden geflogen und in Lager gesperrt. 2500 illegale Einwanderer, darunter 500 Kinder sind zur Zeit hinter Zäunen und Stacheldraht eingesperrt. Oft abgeschieden in der Hitze des australischen Outbacks, sind Massenaufstände, Hungerstreiks und Selbstmorddrohungen unter den Verzweifelten nichts Ungewöhnliches. Sechs Monate bleiben die meisten eingesperrt. Werden sie als Asylsuchende anerkannt, erhalten sie ein auf drei Jahre begrenztes "Schutzvisum". Damit haben sie weder Anspruch auf eine Wohnung, noch auf Englischkurse oder ärztliche Hilfe.
Die Stimmung in Australien ist ausländerfeindlich. Während eine Welle von Sympathie noch 1999 die 4000 Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo empfangen hatte und die Regierung 100 Millionen Mark für ihre Unterbringung ausgab, gelten die Einwanderer heute den meisten als "Drogenhändler" und "Krankheitsüberträger". Australiens weiße Bevölkerung lebt in Angst vor der "Überfremdung". Und Politiker schüren diese Angst.
"Wir halten es nicht länger aus"
So blieben sie auch hart, als der Funkoffizier der "Tampa" in der vergangenen Woche meldete: "Wir halten es nicht länger aus. Drei der Bewusstlosen sind nicht ansprechbar. Zwei schwangere Frauen im siebten Monat klagen über Bauchschmerzen. Wir sind keine Ärzte. Wir wissen nicht, was das bedeutet." Womöglich sind es Leute wie der Funker und sein Kapitän, denen sie ihr Leben verdanken.
Bei der Reederei im fernen Oslo fanden sie dafür die nötige Rückendeckung. Im Oktober feiert Wilhelmsen 140-jähriges Bestehen. Die Festschrift ist längst fertig zum Druck. "Aber ich ahne schon", sagt Hans Christian Bangsmoen, "dass sich keiner für unseren Geschäftsbericht und unsere grundsoliden Zahlen interessieren wird. Wahrscheinlich ist es am besten, wir setzen Arne Rinnan auf das Podium und lassen ihn von den aufreibenden Tagen vor Christmas Island berichten."