Irak Todesangst und kleine Fluchten

Tagtäglich ziehen Killer-Schwadronen durchs Land, töten Menschen wegen ihres Berufs, ihrer Religion oder einfach aus Geldgier. Drei Jahre Krieg im Irak haben jegliche Ordnung aufgelöst. Immer noch schaffen sich Bürger Inseln der Normalität. Aber wie lange noch?

Als der Krieg vorüber war, lachten wir über Adl. Bagdad, im April 2003, in der Luft lag der Geruch von Asche und Aufbruch. Aber Adl, der Gärtner im Haus von Freunden, hatte nur eines im Sinn: seine Pflanzen. Das Haus lag in einem guten Viertel, Sajuna, wo ockerfarbene Einfamilienhäuser von Gärten umstanden sind. Während die Nachbarn in den ersten Wochen allnächtens Wache hielten vor plündernden Horden, wässerte Adl unerschütterlich den Rasen, beschnitt die Rosen, stutzte die Sträucher.

Im noch hoffnungsvollen Herbst 2003, als neue Firmen und Parteien über Nacht auftauchten, als es keine Steuern und 500 Fernsehkanäle gab, bekam auch Adl einen Satellitenanschluss für seine Hütte im Garten. Aber selbst jetzt träumte er weder von großbrüstigen Blondinen noch vom eigenen Mercedes - sondern von deutschen Gartenschlauchaufsätzen mit Sprüh- und Punktbewässerung, die er in der Werbung gesehen hatte.

Sajuna, im Nordosten der Stadt,

war ein Viertel gewesen, in dem alteingesessene Sunniten, Schiiten, Christen, Araber und Turkmenen jahrzehntelang friedlich Seite an Seite gelebt haben. Eine Art Miniaturversion dessen, was der Irak sein könnte - aber ebenso, was er in den vergangenen drei Jahren geworden ist. Drei Jahre, in denen das Misstrauen in Sajuna eingesickert ist wie eine Krankheit. "Keiner traut mehr seinem Nachbarn", sagt ein irakischer Freund, der seinen Namen nicht gedruckt sehen möchte. "Wir haben Angst vor den Sunniten von gegenüber, dass die mit den Terroristen zu tun haben!" Die Sunniten wiederum hätten Angst vor den Killerkommandos in Polizeiuniformen des schiitisch kontrollierten Innenministeriums, und alle gemeinsam haben Angst davor, von den allgegenwärtigen Entführergruppen verschleppt zu werden.

Adl hat, während sich draußen jahrzehntealte Freundschaften auflösten, weiterhin den Garten gepflegt. Auch als am 22. Februar dieses Jahres Unbekannte die goldene Kuppel des schiitischen Askari-Schreins in Samarra sprengten und Stunden später Kommandos der radikalen schiitischen "Messias-Armee" auch durch Sajuna zogen, Jagd auf Sunniten machten. Als eine Moschee im Viertel niedergebrannt und drei Betende niedergemetzelt wurden, erschien Adl Tage später wieder zum Jäten und Wässern. Mittlerweile lacht keiner mehr über ihn. Vielleicht hat er den klügeren Weg gewählt, nicht verrückt zu werden am fortwährenden Albtraum um ihn herum. Und er ist nicht allein: Als der Satellitensender al-Arabiya unlängst die Beliebtheit seiner Sendungen im Irak maß, landeten nicht die Politberichte auf den vordersten Plätzen: sondern Sendungen über Gartenbau und die Antiquariate von Bagdad.

Die Sehnsucht in Bagdad

gilt der Normalität. Als drei der im Irak verbliebenen 75 Psychiater kürzlich die Seelenlage der Bagdadis untersuchten, kamen sie auf 90 Prozent der tausend Befragten, die das Grauen gesehen oder erlebt haben und Traumasymptome zeigen: Depression, Schlaf- und Ruhelosigkeit, Gewaltausbrüche. Nur der Fachbegriff des "posttraumatischen Stresssyndroms" sei völlig irreführend, findet der Arzt Ali Abdul Razak: "Wieso posttraumatisch? Das hört doch nie auf hier, das ist "konstant-traumatisch"."

Es gibt keinen offenen Bürgerkrieg im Irak. Es gibt etwas, was die Angst bodenloser, die Gefahr allgegenwärtiger sein lässt. Zwar ist die gesamte Mitte des Landes, von Mosul und Kirkuk im Norden bis Hilla im Süden, zum Kampfgebiet geworden. Doch es wird nicht offen gekämpft, das verhindert die Anwesenheit der US-Truppen. Stattdessen machen Todesschwadronen Jagd auf Menschen: Erst waren es vor allem ehemalige Offiziere und Parteigrößen von Saddams Regime, die vermutlich von Schiiten hingerichtet wurden. Übersetzer der US-Truppen, Geschäftsleute, Polizisten, Politiker der Übergangskabinette starben unter den Kugeln mutmaßlich sunnitischer Aufständischer. Dann begann die Jagd auf Ärzte, Professoren, Rechtsanwälte. Agrarexperten, Chirurgen, der Dekan der germanistischen Fakultät wurde ausgespäht, abgefangen, erschossen. Und mittlerweile reicht es, Sunnit oder Schiit in der falschen Gegend zu sein, um zu sterben.

Washington hatte den Irakern Demokratie versprochen. Zwei Wahlen hat es gegeben, ins Parlament eingezogen sind fast nur Parteien, die ihre Herkunft zum Programm gemacht haben. In schiitischen Moscheen donnerten die Prediger schon bei der ersten Wahl im Januar 2005: Wer nicht die schiitische Liste Nr. 169 wähle, werde in der Hölle landen und dürfe im Diesseits nicht mehr mit seiner Frau schlafen. Nun ringen die Parteien um die Macht, mit allen Mitteln: mit Morden, immer mehr Milizen, Anschlägen und der Androhung des Bürgerkriegs, getreu dem Motto eines Funktionärs der "Messias-Armee": "Natürlich sind wir für Wahlen. Aber wenn wir nicht gewinnen, müssen wir zu anderen Mitteln greifen."

Es war der Grundirrtum, die Verordnung von Demokratie sei mit demokratischen Verhältnissen gleichzusetzen, der das Land nun in den Kollaps treibt. In Washington gibt man sich überrascht, man habe die Lage unterschätzt. Zalmay Khalilzad, der amerikanische Botschafter in Bagdad, gelangt nach 1000 Tagen Krieg zu der Einsicht, man habe "die Büchse der Pandora geöffnet". Dabei konnte jedem, der es wissen wollte, von Anfang an klar sein, was passieren würde. Aber Rumsfeld, Cheney, Bush & Co. wollten es gar nicht wissen. Sondern wiederholten ihre Propaganda-Fantasien so lange, bis sie selbst daran glaubten. George W. Bush verbreitet weiterhin seine "Nationale Strategie zum Sieg im Irak" und erliegt dem Irrtum, man müsse nur irakische Truppen ausreichend trainieren, damit sie anschließend die Feinde der US-Truppen bekämpfen.

Warum sollten sie? Es geht im Irak längst nicht mehr darum, für oder gegen die Amerikaner zu sein. Es geht um die Macht. Und darum kämpfen die einstigen Opfer Saddam Husseins nun mit jenen Mitteln, derentwegen man froh gewesen war über die Absetzung des Diktators. Saddams Regime und die jahrhundertelange Vorherrschaft der sunnitischen Minderheit sind gestürzt worden. Aber die Schwerkraft aller Prägungen und Erfahrungen im Irak hat nur die Machthaber, nicht aber deren Methoden wechseln lassen: "Alles, was in diesem Land seit mehr als 40 Jahren zählt, ist Gewalt", schildert es der Psychiater Mohammed Lafta, einer der Bagdader Trauma-Forscher: "Um zu siegen, zu überleben, musste man immer stärker, gewalttätiger sein als die anderen. Die Lehrer waren gehalten, schon in der Grundschule allwöchentlich mit Kalaschnikows vor den Kindern in die Luft zu schießen."

Mit Milliarden hat Washington den Aufbau der neuen irakischen Polizei und Armee unterstützt. Als die schiitischen Wahlsieger 2005 das Innenministerium übernahmen, entstanden lauter neue Sondereinheiten zur angeblichen Terrorbekämpfung: die "Wolfsbrigade", die "Vulkanbrigade", die "Habichtbrigade", deren Kämpfer maskiert auf Pick-ups durch Bagdad rasen.

Seither geschehen seltsame Dinge - wie zuletzt am 8. März in Sajuna, als ein halbes Dutzend voll besetzter Pick-ups am helllichten Tage vor der Zentrale der Al-Rawafid-Sicherheitsfirma hielt und Männer im Kampfdress der Sondereinheiten mit 33 entführten Angestellten, Waffen, Computern und dem Safe spurlos verschwanden. Es seien Kidnapper "in gestohlenen Uniformen" gewesen, ließ das Innenministerium verlauten. Wie schon so oft zuvor, wenn Menschen entführt und erschossen wurden. Aber die Männer trugen auch Polizeiwaffen, fuhren Polizeifahrzeuge, funkten auf Polizeifrequenzen. Als US-Truppen im Herbst 2005 ein Foltergefängnis in einem Gebäude des Innenministeriums stürmten und 173 halbtote Häftlinge vorfanden, erklärte Innenminister Bayan Jabr: Es gebe wohl Saddam-Anhänger im Innenministerium, die Menschen foltern und ermorden, ohne dass er, Jabr, etwas davon bemerkt habe.

Dabei ist die Beweislage ziemlich klar: Ende Januar wurden 22 Polizisten an einem Armee-Checkpoint verhaftet, die freimütig bekundet hatten, einen mitgeführten sunnitischen Häftling erschießen und abladen zu wollen. Der amerikanische Generalmajor Joseph Peterson gab zu Protokoll: "Wir haben eine der Todesschwadronen gefunden, sie sind Teil der irakischen Polizei!" Und Polizeigeneral Muntazir al-Samarrai, der wie fast alle hochrangigen sunnitischen Offiziere der schiitischen Säuberungswelle zum Opfer fiel, hat nun im jordanischen Exil ausgesagt und mit Dokumenten belegt: Die Mordkampagnen an Ex-Baath-Parteifunktionären ebenso wie an Professoren, Ärzten, sunnitischen Geistlichen wurden im Innenministerium geplant und ausgeführt. Der Innenminister dementierte wie üblich: Die Täter sähen nur so aus wie Polizisten, führen gestohlene Polizeifahrzeuge und trügen gestohlene Uniformen.

Demokratisch gewählte Killerkommandos, Milizen, die als Parteien antreten: Die Wirklichkeit im Irak entzieht sich gängigen Kategorien unserer Vorstellung. Banden marodieren unter Gottes Fahne wie in Europa zu Zeiten des 30-jährigen Krieges, während Nachbarschaftsmilizen sich Satellitenbilder von "Google Earth" herunterladen, um Fluchtwege und Straßensperren zu planen. Auch ist das Land unter der Oberfläche offizieller Einheit längst in Auflösung begriffen: Im Norden kapseln sich die beiden Kurdenparteien immer weiter von Bagdad ab, lassen nach eigenen Ölquellen graben, unterhalten weiterhin ein eigenes Parlament und ihre Peshmerga-Armeen. Im schiitischen Süden gibt es kaum Anschläge, dafür haben in Basra, der zweitgrößten irakischen Stadt, schon vor Jahren radikale Milizen ihr Gottesreich nach Mafia-Art errichtet: Alkoholhändler wurden ermordet, Frauen trauen sich unverschleiert kaum mehr aus dem Haus. Gleichzeitig haben die Milizen den hochprofitablen Drogenschmuggel aus dem Iran gen Saudi-Arabien übernommen, und in den heiligen Städten Kerbala und Najaf boomt die Prostitution unter dem Deckmantel der "Zeitehe".

Aber dann existiert,

auch das ist Irak, nur knapp 30 Kilometer entfernt von der Horror-Stadt Mosul eine Insel des Friedens. Während in Mosul selbst ernannte Emire alle als Ungläubige zum Tode verdammen, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen, ist es in der Kleinstadt Bashiqa völlig friedlich. Selbst abends sind Spaziergänger unterwegs, Hochzeiten werden noch auf der Straße und ohne Bewaffnete gefeiert. Freitags kommen Familien aus Mosul zum Picknicken in die Olivenhaine, um grillen, Popmusik hören und Bier trinken zu können, ohne dafür ihr Leben zu riskieren. Das Idyll hat einen Grund: Die Mehrheit der rund 20 000 Einwohner sind Jeziden, die nebst Gott einen Engel in Pfauengestalt und ihr ewiges Feuer verehren. Ketzer in den Augen engstirniger Muslime, aber friedliebende Menschen, die seit jeher Wert auf Bildung legen und sich aus allem heraushalten.

Dass allerdings mehr Ingenieure, Anwälte und Ärzte denn je in Bashiqa leben, liegt daran, dass sie aus Mosul fliehen mussten. Wie Rizgar Jibreel, der die "Human Society of Dwarfs" aufgemacht hat: die Hilfsorganisation für Kleinwüchsige. "Sofort nach dem Krieg haben wir uns zusammengetan, zur gegenseitigen Hilfe, etwa bei der Jobsuche. Unter Saddam konnten wir doch höchstens als lächerliche Narren in Shows Geld verdienen, wo wir hopsen mussten, wenn neben unsere Füße geschossen wurde", erklärt der stämmige 1,30-Meter-Mann. Doch dann kamen die Dschihadisten, erklärten die Zwergen-Selbsthilfegruppe für gottlos, sprengten Jibreels Haus und drohten ihm mit Mord. So kam auch er nach Bashiqa, wo die faltigen Kuppeln der Jeziden-Grabmäler und -Tempel wie riesenhafte, versteinerte Zitronenpressen in den Himmel ragen, Seite an Seite mit Kirchen und vereinzelten Moscheen. Wo Priester und Imame zum Tod eines Jeziden-Scheichs kondolieren und sich die Leute derzeit Sorgen machen, ob es in Zeiten der Vogelgrippe wohl angebracht sei, einen Pfau anzubeten.

Solche Sorgen hätten die Menschen in Bagdad gern. Dort musste selbst der Chef des einzigen Leichenschauhauses vor zwei Wochen fliehen, nachdem seine Opferzahlen die Angaben des Innenministeriums als Lügen entblößt hatten. Auch drei Monate nach den Wahlen gibt es noch keine neue Regierung. In der festungsartigen Green Zone blockieren sich die Parteiführer gegenseitig: Zum Regieren braucht der schiitische Block die Stimmen der Kurden. Die haben zur Bedingung gemacht, dass ihr Gebiet autonom wird, dass sie die Ölstadt Kirkuk erhalten und der säkulare Ex-Premier Iyad Allawi in die Regierung kommt - was wiederum die eine Hälfte der Schiiten kategorisch ablehnt, die mit einer Stimme Mehrheit den bisherigen Premier Ibrahim al-Dschaafari für eine erneute Amtszeit vorschlug. Was wiederum die Kurden unannehmbar finden.

Es ist nicht so, dass außer den Al-Qaeda-Jüngern des Terroristen al-Zarqawi irgendjemand den Bürgerkrieg will - genauso wenig, wie ihn die Nachbarländer wollen. Aber solange es den neuen Parteiführern nur um die Macht geht, um jeden Preis, werden sie den Irak untergehen lassen. Was irgendwann wiederum die Türkei, Saudi-Arabien und den Iran in Zugzwang bringen wird, ihrer jeweiligen Klientel zu Hilfe zu eilen und einen Krieg zu forcieren, den sie eigentlich ablehnen. Donald Rumsfeld, der unbedingt die Invasion wollte, mag nun nichts mehr mit ihren Folgen zu tun haben: Sollte es zum Bürgerkrieg kommen, so der US-Verteidigungsminister, würden sich die US-Truppen heraushalten. Das sei dann Sache der Iraker.

In Sajuna zerfällt derweil das Land im Kleinen: Seit er 1999 herzog, waren Ismail, ein Schiit, und sein Nachbar Abu Omar, ein Sunnit, engste Freunde; Abu Omar half Ismail beim Hausbau, Ismail ging mit Abu Omar zum Beten in die sunnitische Moschee. Als der Mob Ende Februar durch die Gassen zog, baute sich Ismail zitternd vor den Männern in Schwarz auf und behauptete, Abu Omar sei auch Schiit.

Nun traut er sich aus Scham

nicht mehr in die Moschee und plant, zurück in sein schiitisches Heimatviertel Kadhimiya zu ziehen. So, wie Hunderte Bagdader Familien binnen Tagen gemischte Viertel verlassen haben. Es gibt Zigtausende gemischter Ehen in Bagdad - aber Said, schiitischer Ingenieur aus Sajuna, hat seinem ältesten Freund Haydar, Sunnit, vor Wochen verboten, seine Schwester zu heiraten: "Es tut mir furchtbar weh, aber ich habe es getan, gerade weil ich ihn als Freund nicht verlieren will! Auf dieser Ehe würde ein Fluch liegen, denn es wird keinen Frieden mehr geben." Adl, der ewige Gärtner, wässert immer noch die Rosen. Bis auf weiteres.

Mitarbeit: Daud Salman, Zaineb Ahmed

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