Nahost-Experte Steinberg erklärt Warum die Hamas ausgerechnet jetzt zuschlug und was US-Saudi-Verhandlungen damit zu tun haben

US-Präsident Joe Biden (l.) im Gespräch mit Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman
US-Präsident Joe Biden (l.) im Gespräch mit Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman: "Thema Nummer 1 in Israel und unter Palästinensern"
© Bandar Aljaloud/Saudi Royal Palace / DPA
Die Hamas hat Israel angegriffen und Dutzende Zivilisten und Soldaten als Geiseln genommen. Warum jetzt? Und wie wird Israel darauf reagieren? Nahost-Experte Guido Steinberg erklärt die tiefere Ursache und sagt, was in den vergangenen Wochen Thema Nurmmer 1 in Israel und unter Palästinensern war.

Die radikalislamistische Hamas feuert Tausende Raketen auf Israel ab, Terror-Kommandos aus Gaza dringen nach Israel ein, morden und nehmen Geiseln. Israel sieht sich im Krieg. Wie bewerten Sie das?
Dieser Angriff stellt eine neue Dimension dar. Raketenangriffe der Hamas gibt es ja seit Jahren. Das Neue ist, dass Hamas-Einheiten auf israelisches Territorium vorgedrungen sind. Sie können sich dort eine zeitlang halten, haben viele Israelis getötet und darüber hinaus Zivilisten und Soldaten als Geiseln genommen. Das ist durchaus überraschend.

Gestern Abend kursierte die Zahl von 52 Geiseln, darunter israelische Militärs, teils verschleppt aus Israel in den Gaza-Streifen.
So überrascht wie die Israelis waren und angesichts der Videos im Netz, ist davon auszugehen, dass die Zahlen stimmen und vielleicht noch höher sind. Es sind jedenfalls eine ganze Menge Geiseln. Auch die Nachricht von der Gefangennahme eines Armeegenerals scheint sich zu bestätigen.

Guido Steinberg
Guido Steinberg forscht seit Jahren bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin über die Zeitgeschichte und Politik des Nahen und Mittleren Ostens mit den Schwerpunkten Persischer Golf, Islamismus und islamistischer Terrorismus. Der Islamwissenschaftler ist Autor zahlreicher Fachbücher, unter anderem über den Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien am Golf.
© Marc Darchinger

Israels Sicherheitsapparat wurde offenbar völlig überrascht. Die Grenzzäune zu Gaza gehen tief in den Untergrund, sind ausgestattet mit Kameras und Sensoren –  wie konnte das passieren?
Durch Arroganz, Selbstgefälligkeit und Nachlässigkeit. Die Israelis waren überraschend schlecht aufgestellt an den Grenzen zum Gazastreifen. Dabei ist die Taktik der Angreifer ja nichts Neues. Die Israelis diskutieren seit Monaten über Angriffe dieser Art, jedoch aus dem Libanon, wo die Hisbollah operiert. Sie waren überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass etwas Ähnliches aus dem Gaza-Streifen im Süden kommen kann. Das ist fahrlässig.

Haben Israels Geheimdienste die militärische Terroroperation verschlafen?
Wir haben es mit mehreren Hundert Hamas-Kämpfern zu tun, die alle hoch motiviert und sehr stark ideologisiert sind. Sie sind daran gewöhnt, im Geheimen zu handeln. Deswegen bin ich nicht so sicher, ob die israelischen Dienste Hauptadressat von Kritik sein müssen. Wenn man es mit einem so professionellen Gegner wie der Hamas zu tun hat, kann durchaus passieren, dass man die nötigen Informationen nicht vorher bekommt. Tatsächlich unverständlich ist aber, dass der Grenzzaun und auch die Orte auf der israelischen Seite nicht besser geschützt waren. Es war eine Fahrlässigkeit vor allem der Armee, dass die Schutzmaßnahmen offensichtlich überhaupt nicht gestimmt haben.

Das Raketenabwehrsystem Iron Dome ist in Israel im Einsatz, um aus dem Gazastreifen abgefeuerte Raketen abzufangen
Das Raketenabwehrsystem Iron Dome ist in Israel im Einsatz, um aus dem Gazastreifen abgefeuerte Raketen abzufangen
© MAHMUD HAMS / AFP
Israel setzt Kampf gegen Hamas-Angreifer fort – mehr als 1000 Tote

Sehen Sie im Video: Israel setzt Kampf gegen Hamas-Angreifer fort – mehr als 1000 Tote.

"Bürger Israels, wir sind im Krieg", sagte Premierminister Netanyahu in einer Ansprache an die Bevölkerung. Wie wird Israel jetzt reagieren?
Die Luftangriffe haben ja begonnen. Es wird eine größere Aktion kommen. Die große Frage ist aber, ob es auch eine größere Bodenoperation geben wird. Da müssen die Israelis nun abwägen. Wenn sie in den Gazastreifen einmarschieren, gefährden sie Leib und Leben der Geiseln. Werden sie nicht einmarschieren, dann hat der Vorfall das Potenzial, zu einer schweren Niederlage für Israel zu werden.

Bei der elftägigen Militäroperation vor zweieinhalb Jahren hat Israel den dicht besiedelten Gazastreifen massiv bombardiert, unter anderem das Tunnelsystem der Hamas – aber es gab keine Bodenoffensive.
Aus meiner Sicht gibt es für Israel keine guten Alternativen. Marschieren sie nicht ein, dann werden langwierige Verhandlungen und am Ende ein nachteiliger Gefangenenaustausch folgen – verbunden mit all den innenpolitischen Diskussionen, die das mit sich bringt. Die Hamas hat junge Mädchen gekidnappt, Kinder und alte Frauen. Es erscheinen schon die ersten Filme, die zeigen, dass Geiseln misshandelt werden. Morde vor laufender Kamera könnten folgen und die Verhandlungen monate- oder jahrelang dauern. Die Alternative ist eine Bodenoffensive mit unsicherem Ausgang, in städtischem Territorium mit hohen Verlusten der israelischen Armee und entsprechenden Verlusten unter Zivilisten auf der palästinensischen Seite. Unmittelbar nach Geiselnahmen in der Vergangenheit – wie beispielsweise im Krieg gegen die Hisbollah 2006 – hat Israel mit breit angelegten Militäroffensiven reagiert. Ich rechne damit, dass sich die israelische Regierung auch jetzt für einen Angriff entscheiden könnte.

Das Geiselthema könnte sich als zentrales Element erweisen für das, was in den nächsten Tagen passieren wird?
Aus meiner Sicht ist die Geiselnahme der große Erfolg, den die Hamas hier feiert. Sie haben eine unbekannte, aber nicht geringe Zahl an Geiseln in ihrer Gewalt, darunter eben nicht nur Soldaten, sondern auch Soldatinnen, ältere Frauen, Kinder. Und wir wissen aus der Vergangenheit: Das ist die Achillesferse der Israelis. Die israelische Gesellschaft erwartet, dass diese Geiseln befreit werden. Der Preis dafür ist immer hoch, für jeden Israeli werden Hunderte gefangene Palästinenser befreit. Und das schränkt den militärischen Handlungsspielraum der Israelis enorm ein.

Zwingt das brutale Vorgehen der Hamas Israels Regierung nicht zu einem massiven Gegenschlag, ganz unabhängig von den Geiseln?
Wenn Israel mit einer groß angelegten Offensive reagiert, wächst auf jeden Fall die Gefahr für diese Geiseln, misshandelt oder auch ermordet zu werden. Wenn die israelische Regierung sich entschließt, unter Rücksicht auf die Geiseln auf eine größere Bodenoperation zu verzichten, würden sehr bald Gespräche beginnen über einen Gefangenenaustausch. Und das wird so enden wie bisher immer, dass nämlich Israel weitgehende Zugeständnisse machen muss, um dafür einige wenige Geiseln freizubekommen.

Und das würden die Hardliner in der Regierung Netanjahu absegnen?
Selbst die israelischen Konservativen und Rechten haben in der Vergangenheit solche Austausche mitgetragen. Der Wunsch, die lebenden jüdischen Geiseln und die Leichen der toten jüdischen Soldaten zurückzubekommen war so groß, dass sicherheitspolitische Überlegungen in den Hintergrund rückten. Und ich gehe davon aus, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.

In Israel selbst herrscht seit Monaten große Unruhe, die Gesellschaft scheint gespalten. Das rechte Regierungsbündnis ist auf rechtsextreme und ultrareligiöse Parteien angewiesen, Oppositionelle fürchten um die Demokratie. Und im Land leben zwei Millionen Araber. Ein Pulverfass?
Die Hoffnung der Hamas, dass sich die Palästinenser in Israel mit ihr solidarisieren, ist völlig übertrieben. Ich denke, die Israelis werden sich nun hinter der Flagge versammeln. Und ich hoffe sehr, dass auch der innenpolitische Konflikt über die Justizreform dann an Schärfe verliert.

Warum haben die radikalen Islamisten ausgerechnet jetzt zugeschlagen?
Zunächst einmal wollte die Hamas den 50. Jahrestag des Oktoberkrieges oder Jom-Kippur-Krieges nutzen. Tiefere Ursache aber sind die Verhandlungen zwischen den USA, Saudi Arabien und Israel über eine Normalisierung oder sogar ein Friedensabkommen zwischen Saudi Arabien und Israel. Das war das Thema Nummer 1 in den letzten Wochen in Israel – aber auch unter Palästinensern. Ihre Sorge ist, dass sie in einem solchen Abkommen kaum eine Rolle spielen. Und die Hamas fürchtet, noch weiter an den Rand des politischen Spektrums gedrängt zu werden, weil sie überhaupt nicht beteiligt ist. Der Angriff ist der Hinweis der Hamas – vielleicht auch der Hinweis Irans – dass ein Frieden zwischen Israel und Saudi Arabien Gegner unter den Palästinensern hat.

Irans Regierung gratulierte der Hamas zu einem "Wendepunkt im bewaffneten Kampf gegen die Zionisten".
Das war zu erwarten. Die Aktion wäre ohne iranische Unterstützung nicht möglich gewesen. Die Hamas erhält seit etwa 30 Jahren von Hisbollah und Iran Ausbildungshilfe, seit bald zwei Jahrzehnten auch Raketen- und Raketenbauteile. Also wenn die Hamas hier einen Erfolg erzielen kann, dann ist das auch ein Erfolg Irans.

Wie deuten Sie die Reaktionen in der arabischen Welt?
Die sind zweigeteilt. Die iran-treuen Kräfte im Irak, Syrien und Libanon machen die Israelis verantwortlich und feiern die Hamas. Die Kataris positionieren sich offiziell in der Mitte, doch wenn man Al Jazeera auf Arabisch schaut, erscheint die Position Katars eher Hamas-freundlich. Entscheidend ist aber aus meiner Sicht, wie in Saudi Arabien reagiert wird. Und da äußern sich die regierungsamtlichen Medien sehr ablehnend gegenüber Hamas, sie benutzen auch das Attribut "terroristisch". Ein ganz wichtiger Teil der Region – neben Saudi Arabien auch die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Golfstaaten – hat sich Israel angenähert und sieht die Terrororganisation Hamas als Feind. Und Saudi Arabien ist nun mal der mit Abstand mächtigste arabische Staat.

Halten Sie eine Eskalation Richtung Iran für denkbar?
Denkbar natürlich – allerdings nur, wenn sich der Konflikt tatsächlich in Richtung des Libanon ausweitet. Die Israelis rechnen ja seit Monaten mit einem ähnlichen Angriff im Norden des Landes. Die Spannungen werden in nächster Zeit ansteigen, weil die Israelis natürlich Iran mitverantwortlich machen für das, was passiert ist. Allerdings ist mein Eindruck, dass die Hisbollah kein Interesse an einem Waffengang mit den Israelis hat.

In Berlin löste die Polizei gestern Abend eine israelfeindliche Versammlung auf. Erwarten Sie angesichts der Lage in Israel Demonstrationen in Deutschland?
Wenn der Konflikt längere Zeit andauert, wenn die Israelis Luftangriffe fliegen, wird es auch zivile Opfer geben und die Kritiker Israels hier werden laut werden. Es gibt in Deutschland viele Sympathisanten der Hamas und der Hisbollah, ihre Zahl wächst. Auch die Muslimbruderschaft hat viele Freunde – und die Brüder stehen auf der Seite der Terroristen. Doch vor dem Hintergrund des äußerst brutalen Vorgehens der Hamas werden entsprechende Äußerungen hier in Deutschland auf großen Widerstand stoßen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Ereignisse zu Anlass nimmt, entschlossener gegen die Hamas und ihre Unterstützer vorzugehen.