"Die Übungen haben begonnen", heißt es am Donnerstag im chinesischen Staatsfernsehen. Die von Peking angekündigten Militärmanöver um Taiwan sind voll angelaufen. Die demokratische Inselrepublik befindet sich in Kampfbereitschaft, teilt das Verteidigungsministerium in Taipeh mit. Die Streitkräfte würden gemäß dem Prinzip handeln, sich "auf einen Krieg vorzubereiten, ohne einen Krieg zu wollen." Es werde auch keine "Eskalation des Konflikts" gesucht.
Kurzum: Die Lage bleibt angespannt, mindestens.
Ob der umstrittene Taiwan-Besuch von US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi nun hilfreich war oder nicht – darüber streiten sich die Gelehrten. Aber wie realistisch ist eine militärische Zuspitzung des Konflikts, gar der Ausbruch eines Krieges?
Taiwan: Ein gefährliches (Ablenkungs-)Manöver
Sicher ist: Die Regierung in Peking, die Taiwan als Teil des chinesischen Territoriums ansieht, hat als Reaktion auf den ranghohen US-Besuch die seit langem umfangreichsten Militärmanöver angeordnet.
- Das östliche Militärkommando der Volksbefreiungsarmee berichtet, in der Meerenge der Taiwanstraße, die Taiwan vom Festland trennt, sowie östlich der Insel weit reichende Geschosse abgefeuert zu haben.
- Das Staatsfernsehen meldet, im Osten habe es zur Übung auch "Präzisionsschläge" gegeben.
- Insgesamt hat China rund um die Insel sechs Manövergebiete ausgewiesen.
Eine erwartbare, aber dennoch besorgniserregende Reaktion, meint Amanda Hsiao, China-Expertin beim internationalen Think Tank Crisis Group. "Peking versucht eindeutig, seine entschiedenen Einwände gegen Pelosis zum Ausdruck zu bringen", sagt sie zum "Guardian". Die aktuellen Manöver müssten daher sichtbar über die bisherigen Muskelspiele hinausgehen (lesen Sie hier mehr dazu). "Ich denke, die Absicht der Militärübungen besteht eher darin, militärische Stärke zu zeigen und zu demonstrieren", so Hsiao.
Zwar hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, seit er 2012 an die Macht gekommen ist, mehrmals deutlich gemacht, dass er die "Vereinigung" mit Taiwan als seine Mission versteht, die es notfalls auch militärisch durchzusetzen gilt. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die aktuelle Situation auch innenpolitisch motiviert ist.
Chinas Machthaber Xi Jinping strebt im Herbst eine historische dritte Amtszeit an, steht wegen seiner Null-Covid-Politik und einer Wirtschaftskrise aber schwer unter Druck. Nun ein Zeichen der Schwäche zu zeigen, gar einen Gesichtsverlust zu riskieren, kann sich der Autokrat nicht leisten. Einerseits. Andererseits: Pelosis Besuch könnte eine Gelegenheit für ihn sein, "das Augenmerk von innenpolitischen Themen abzuwenden und auf äußere Angelegenheiten zu verschieben, um abzulenken", zitiert der "Guardian" Jennifer Hsu, die am Lowy Institute in Australien forscht.
Staatspräsident Xi Jinping dürfte also kein Interesse daran haben, sich nachgiebig zu zeigen. Stattdessen dürfte er die Rhetorik verschärfen, um sich als Bewahrer der chinesischen Souveränität und territorialen Integrität zu inszenieren, zu der er Taiwan als abtrünnige Provinz zählt.
"Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges oder eines schweren Zwischenfalls ist gering", meint auch Bonnie Glaser, Direktorin des Asienprogramms beim US-Thinktank German Marshall Fund. "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass China eine Reihe militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Maßnahmen ergreifen wird, um Stärke und Entschlossenheit zu zeigen, ist nicht unbedeutend." Wahrscheinlich werde China versuchen, Taiwan auf "unzählige Arten zu bestrafen", so Glaser auf Twitter.
Einen ersten Vorgeschmack gab es schon am Montagabend. Laut lokalen Medien hat China die Einfuhr von 3000 Lebensmitteln von über 100 Lebensmittelherstellern aus Taiwan verboten. China ist der größte Handelspartner Taiwans, ein Akt der Vergeltung aufgrund des Pelosi-Besuchs liegt also nahe.
Probt China für den Ernstfall?
Die militärischen Drohgebärden dürften dieser Logik folgen, wenngleich sie noch einen anderen Hintergrund haben könnten.
Sechs Gebiete rund um die Insel seien für die "Kampfübung" ausgewählt worden, "relevante Schiffe und Flugzeuge" sollten die davon betroffenen Gewässer und den entsprechenden Flugraum meiden, meldet der staatliche Fernsehsender CCTV am Donnerstag. Die Manöver in den Gewässern um Taiwan sollen demnach bis Sonntagmittag laufen. Die Militärübungen sollen bis zu 20 Kilometer vor der Küste Taiwans stattfinden. Die staatliche chinesische Zeitung "Global Times" schreibt unter Berufung auf Militäranalysten, die Manöver seien "beispiellos". Erstmals würden Raketen über Taiwan fliegen.
"Früher führten die chinesischen Kommunisten militärische Übungen aus der Ferne durch, nun rücken sie näher heran", zitiert die "New York Times" Chang Yan-ting, einen pensionierten Vize-Kommandanten der taiwanesischen Luftwaffe. "Die Militärübungen rund um Taiwan werden unser nationales Militär in eine sehr gefährliche Position bringen", sagt er. "Sie stehen schon vor unserer Haustür."
Könnte das der schleichende Beginn einer Invasion sein? Der russische Einmarsch in der Ukraine hat entsprechende Befürchtungen verstärkt, dass sich China die demokratische Inselrepublik auf ähnliche Weise gewaltsam einverleiben könnte.
Aber: Chinas Streitkräfte haben fast keine Kampferfahrung.
"Sie haben jahrzehntelang keinen Krieg geführt – der letzte war gegen Vietnam 1979 – und das war noch vor der Modernisierung der Streitkräfte", sagt Militärexperte Zeno Leoni vom King's College in London zu "Tagesschau.de". Darüber hinaus sei der chinesische Militärapparat trotz milliardenschwerer Investitionen wenig transparent, er habe "zugleich Merkmale einer starken und einer schwachen Macht".
Die "Kampfübungen", wie es im Staatsfernsehen heißt, könnten daher auch dazu dienen, die Bereitschaft der Streitkräfte für eine mögliche Invasion zu testen. Das glaubt zumindest Oriana Skylar Mastro, die am Freeman Spogli Institute for International Studies an der Universität Stanford das chinesische Militär und sein Potenzial untersucht.
"Sie werden dies (die Militärmanöver) definitiv als Vorwand nutzen, um etwas zu tun, das ihnen hilft, sich auf eine mögliche Invasion vorzubereiten", sagt sie zur "New York Times". China gehe es dabei mehr als nur um eine Warnung. Unter diesem "Deckmantel" würde die Volksrepublik im Grunde ihre "Fähigkeiten testen, komplexe Manöver durchzuführen, die für einen amphibischen Angriff auf Taiwan erforderlich sind." Sprich: Einen Angriff zu Wasser.
Wie reagieren?
In den USA, die es sich unter Präsident Joe Biden zur "Verpflichtung" gemacht haben, Taiwan im Falle eines Angriffs zu verteidigen, werden die Entwicklungen genau beobachtet. Die Regierung hofft offenbar darauf, dass die Militärübungen nur wenige Tage andauern, berichtete die US-Zeitung – und sich nicht zu etwas Größerem, etwa einer Seeblockade Taiwans, ausdehnen. Würde sich dann doch die Frage stellen: Wie darauf reagieren?
"Dies ist eines der Szenarien, mit denen man nur schwer umgehen kann", zitiert die Zeitung Bonn Lin, die unter anderem das Taiwan-Referat im Pentagon geleitet hat, bevor sie zum Center for Strategic and International Studies in Washington gewechselt ist. "Wenn eine militärische Übung in eine Blockade übergeht, wann wird klar, dass die Übung jetzt eine Blockade ist? Wer soll als Erster antworten? Taiwans Truppen? Die Vereinigten Staaten? Es ist unklar."
Die Lage bleibt angespannt, mindestens.