Nancy Pelosi war eigentlich nur da, hatte jedenfalls nichts Handfestes im Gepäck, wenngleich eine deutliche Botschaft: Die USA werden "immer an der Seite Taiwans stehen" und ihre "Verpflichtungen gegenüber Taiwan nicht aufgeben". Nun stellen sich plötzlich Fragen, wie: Ist das der Beginn einer Eskalation, einer militärischen, gar eines Krieges? Und das alles wegen eines Besuchs?
Es war schon zappenduster in Taipeh, als die Vorsitzende des Repräsentantenhauses, folglich die protokollarische Nummer Drei im Machtgefüge der USA, am Dienstag zum Landeanflug auf die Inselrepublik ansetzte. Und damit die wohl schwerste Belastungsprobe der Beziehungen zu China seit Jahrzehnten auslöste.
Schon in den Tagen und Wochen vor der erwarteten Visite, als es noch nicht als ausgemacht galt, ob Pelosi wirklich anreisen werde, zeichnete sich Ungemach ab. Peking schäumte angesichts der als Provokation verstandenen Reisepläne und sprach vorauseilend allerhand Drohungen aus. Washington spielte den möglichen Besuch demonstrativ herunter und mahnte zur Deeskalation.
Kurzum: Die diplomatische Auseinandersetzung schien bereits aus dem Ruder zu laufen, lange bevor Pelosi überhaupt einen Fuß auf's Festland Taiwans setzen sollte.
Insofern hatte ihre Stippvisite durchaus ein überraschendes Moment, zog sie ihren Besuch ungeachtet aller Warnungen (auch der der US-Geheimdienste) durch. Hingegen erwartbar war die Reaktion Chinas, das mit den größten militärischen Muskelspielen seit Langem reagierte (lesen Sie hier mehr dazu).
Und das war's. Greifbare Ergebnisse brachte der Besuch praktisch nicht, dafür aber womöglich weitreichende Konsequenzen. War es das wert?
Ein Ende der Eskalation ist in nächster Zeit nicht zu erwarten
Die Inselrepublik mit rund 23 Millionen Einwohnern liegt etwa 50 Kilometer östlich der chinesischen Küste und gilt seit Jahrzehnten als Spannungspunkt zwischen Washington und Peking.
Der Konflikt, in aller Kürze: Die kommunistische Führung in Peking betrachtet das freiheitliche Taiwan als Teil der Volksrepublik, Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die "Vereinigung" als seine Mission, die notfalls militärisch durchgesetzt werden muss. Die USA wiederum haben sich der Verteidigungsfähigkeit Taiwans verpflichtet, was sich bisher vor allem in Waffenlieferungen widerspiegelt, es unter Präsident Joe Biden aber auch als ihre "Verpflichtung" bezeichnet, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China zu verteidigen.
Die Ausgangslage ist also angespannt.
Von einem militärischen Konflikt, gar einem Krieg zwischen den USA und China, gehen Beobachter dennoch nicht aus. Beide Seiten können angesichts des Krieges in der Ukraine keine weitere außenpolitische Zuspitzung gebrauchen, schon allein wegen der politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Dass sich der Konflikt in absehbarer Zeit entschärfen könnte, gilt jedoch als unwahrscheinlich.
Denn sowohl die USA als auch China dürften gerade kein Interesse daran haben, nachgiebig zu wirken. Im November stehen die Zwischenwahlen in den USA an, ein Einknicken vor China könnte der Regierung von Präsident Biden einen schweren Schlag im Kopf-an-Kopf-Rennen um die Wählergunst versetzen. Chinas Machthaber Xi Jinping strebt im Herbst eine historische dritte Amtszeit an, steht wegen seiner Null-Covid-Politik und einer Wirtschaftskrise aber schwer unter Druck. Nun ein Zeichen der Schwäche zu zeigen, gar einen Gesichtsverlust zu riskieren, kann sich der Autokrat nicht leisten.
Zumindest China dürfte die Rhetorik daher verschärfen. "Die Wahrscheinlichkeit eines Krieges oder eines schweren Zwischenfalls ist gering", meint auch Bonnie Glaser, Direktorin des Asienprogramms beim US-Thinktank German Marshall Fund. "Aber die Wahrscheinlichkeit, dass China eine Reihe militärischer, wirtschaftlicher und diplomatischer Maßnahmen ergreifen wird, um Stärke und Entschlossenheit zu zeigen, ist nicht unbedeutend." Wahrscheinlich werde China versuchen, Taiwan auf "unzählige Arten zu bestrafen", so Glaser auf Twitter.
Einen ersten Vorgeschmack gab es schon am Montagabend. Laut lokalen Medien hat China die Einfuhr von 3000 Lebensmitteln von über 100 Lebensmittelherstellern aus Taiwan verboten. China ist der größte Handelspartner Taiwans, ein Akt der Vergeltung aufgrund des Pelosi-Besuchs liegt also nahe. Darüber hinaus kündigte Peking Militärmanöver in Gewässern rings um Taiwan an.
Wie weitreichend Taipeh und Washington auf die Maßnahmen reagieren werden, ist unklar. So oder so ist die Gefahr einer Eskalation gewachsen, meinen Experten.
"Meine größte Sorge ist, dass Peking Maßnahmen ergreift, auf die Washington seinerseits reagieren muss, um zu vermeiden, unentschlossen oder passiv zu wirken und so möglicherweise eine Eskalationsspirale auslöst", zitiert der "Guardian" Todd Hall, Professor an der Universität Oxford. Robert Daly, Direktor des Kissinger Instituts, stimmt zu: "Was auch immer sie tun, um zu eskalieren, wird zum neuen Status quo werden", sagte er dem Blatt. Das mache die Gemengelage noch gefährlicher. Peking und Washington wären besser beraten, so Daly, wenn sie ihre Energie in "strategische Gesprächen statt Eskalationspielchen" stecken würden.
Vier Worte für Nancy Pelosi
Hat sich Pelosi also verkalkuliert? Ihre Errungenschaften in Taiwan dürften persönlicher, symbolischer und kurzfristiger Natur sein, bemerkt der US-Sender CNN. Dennoch hat die Visite durchaus Wirkung erzielt.
Die offensichtlichste: Pelosi hat Taiwan wieder auf die politische Agenda gesetzt. Und bekommt für ihre Solidaritätsbekundungen an die Inselrepublik, und die deutlichen Worte gegen China, nun innen- wie außenpolitischen Zuspruch.
So habe Pelosi "die Tür nach Taiwan viel weiter geöffnet", lobte etwa Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis auf Twitter. "Ich bin sicher, dass andere Verteidiger von Freiheit und Demokratie sehr bald hindurchgehen werden." Großbritannien will im November oder Dezember ebenfalls eine Delegation nach Taiwan schicken, was in Peking bereits Protest hervorruft. Und auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) meldete sich zu Wort, indem sie die chinesischen Drohgebärden kritisierte.
Nicht zuletzt klatschen sogar die Republikaner reihenweise Beifall, eigentlich die schärfsten Kritiker Pelosis. "Ich werde nun vier Worte benutzen, die ich in dieser Reihenfolge noch nie benutzt habe", zitierte die "New York Times" Senator Roy Blunt aus Missouri. "Und diese vier Worte lauten: Sprecherin Pelosi hatte recht." Dass Taiwan wichtig für die Demokratie sei, sei eine wichtige Klarstellung gewesen. "Ich erwarte, dass andere dem Beispiel von Pelosi folgen werden", so Blunt.

So heikel der Besuch von Pelosi für die US-Regierung gewesen sein mag – hatte Präsident Biden doch einst gemahnt, der Wettbewerb mit China dürfe nicht zu einem "Konflikt ausarten, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt" –, so effektiv dürfte die Spitzenpolitikerin auch den Vorwurf zerstreut haben, die USA würden zu lasch mit der Supermacht umgehen.
Pelosi hat ihrer Visite das Standing der US-Demokraten vor den bevorstehenden Kongresswahlen damit durchaus aufgewertet, allerdings auch ihr eigenes Image als standhafte China-Kritikerin, die seit drei Jahrzehnten keine Konfrontation mit dem autokratischen Regime scheut. So wurde auch in den eigenen Reihen der Vorwurf laut, Pelosi habe sich auf sehr riskantem Wege profilieren wollen: Die 82-Jährige wird ihren Posten als Sprecherin des Repräsentantenhauses bald abgeben, es liegt also durchaus nahe, dass sie auch ihr politisches Vermächtnis zumindest im Hinterkopf gehabt haben könnte.
Am Mittwoch flog Pelosi wieder vom Songshan Flughafen in Taipeh ab, nachdem sie unter anderem Gespräche mit der taiwanischen Präsidentin Tsai Ing-wen geführt hatte. Pelosi und ihre Delegation seien nach Taiwan gereist, "um unmissverständlich klar zu machen, dass wir unsere Verpflichtung gegenüber Taiwan nicht aufgeben werden", hatte sie bei dem Treffen mit gesagt. Die Welt stehe vor der Wahl zwischen Demokratie und Autokratie, mehr als je zuvor seien deswegen die Solidarität und Unterstützung der USA gefragt. "Taiwan ist eine Insel der Widerstandskraft in der Welt." Und Pelosi war da.