Papst Franziskus hat die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland aufgerufen – und damit international Empörung und Kritik ausgelöst. "Wenn man sieht, dass man besiegt wird, dass die Dinge nicht gut laufen, muss man den Mut haben zu verhandeln", sagte der Papst dem italienischsprachigen Schweizer Sender RSI in einem Interview. Er sei der Ansicht, dass derjenige Stärke zeige, "der die Situation erkennt, der an das Volk denkt, der den Mut hat, die weiße Fahne zu hissen und zu verhandeln" – womit er sich offensichtlich an die Ukraine richtete.
Reaktionen in Deutschland auf den Vorstoß von Papst Franziskus
"Wie Sie sich vorstellen können, ist der Bundeskanzler in dieser Frage nicht der Meinung des Papstes", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. "Richtig ist, dass die Ukraine sich gegen einen Aggressor wehrt." Sie bekomme auch viel internationale Unterstützung, um sich gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verteidigen zu können.
Auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt widersprach dem Papst. "Niemand möchte mehr Frieden als die Ukraine", sagte die Grünen-Politikerin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Putin könne Krieg und Leid sofort beenden – nicht die Ukraine. "Wer von der Ukraine verlangt, sich einfach zu ergeben, gibt dem Aggressor, was er sich widerrechtlich geholt hat, und akzeptiert damit die Auslöschung der Ukraine."
CDU-Chef Friedrich Merz hat den Aufruf des Papstes an die Ukraine zu Friedensverhandlungen mit Russland klar zurückgewiesen. Er halte die Aussage des katholischen Kirchenoberhaupts für "grundfalsch", sagte Merz am Montag in Berlin. Er sei davon "überrascht gewesen, um das Mindeste zu sagen". Auch die Geschichte habe gezeigt, dass auch die katholische Kirche "nicht frei von Irrtum" sei.
Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte vom Papst, "verbale mörderische Hetze" des orthodoxen Moskauer Patriarchen Kirill gegen die Ukrainer zu verurteilen. "Ich schäme mich als Katholikin, dass er das unterlässt."
Außenministerin Annalena Baerbock hat entgeistert reagiert. "Ich frage mich wirklich, was er sich dabei gedacht hat", sagte die Grünen-Politikerin am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Caren Miosga". "Ich versteh's nicht." Baerbock vertrat die Ansicht, man könne manche Dinge nur verstehen, wenn man sie selber sehe. Wenn man sehe, wie ein Kindergarten in der Ukraine angegriffen werde, wie Kinder und Jugendliche von Russen verschleppt würden. "Ich frage mich: Wo ist da der Papst? Der Papst muss davon wissen."
Auch in der Unionsspitze gibt es deutliche Kritik an dem Papst-Appell. "Durch das Hissen von weißen Flaggen ist in der Ukraine nichts gelöst, ganz im Gegenteil", sagte Hessens Regierungschef Boris Rhein (CDU) am Montag beim Eintreffen zu einer gemeinsamen Sitzung der Präsidien von CDU und CSU zur Verabschiedung des Europawahlprogramms der Union in Berlin. "Uns muss allen klar sein, dass ein Sieg Putins in der Ukraine die Freiheit Europas in einer schlimmen Art und Weise beeinträchtigen wird. Nichts wird besser, wenn Putin dort siegt, sondern alles wird schlechter."
CDU-Schatzmeisterin Julia Klöckner sagte, sie sei als Katholikin "mehr als irritiert über diese Aufforderung, man möge die weiße Fahne hissen". Wenn man fordere, dass sich jemand ergebe, der überfallen werde, "dann ist das eine Aufforderung an Herrn Putin, mit kirchlichem Segen einfach weiterzumachen".
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) dagegen hat sich hinter Papst Franziskus' an die Ukraine gerichteten Aufruf zu Friedensverhandlungen mit Russland gestellt. "Papst Franziskus ist ein besonnener Mann. Seinen Aufruf 'Mut zu Verhandlungen' teile ich", sagte der Regierungschef den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Es ist klar, dass die Ukraine unterstützt werden muss und Russland der Aggressor in diesem Krieg ist", sagte Kretschmer weiter. "Dennoch müssen wir uns mehr anstrengen, das Sterben im Krieg zu beenden."
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Internationale Reaktionen
Die Ukraine hat die Überlegungen von Papst Franziskus deutlich zurückgewiesen. "Unsere Flagge ist gelb und blau", schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Sonntag auf der Plattform X und bezog sich dabei auf die Farben der Nationalflagge. "Dies ist die Flagge, unter der wir leben, sterben und siegen. Wir werden niemals eine andere Flagge hissen."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte dazu: "Als das russische Böse am 24. Februar (2022) diesen Krieg begann, standen alle Ukrainer auf, um sich zu verteidigen. Christen, Muslime, Juden – alle." Und er danke jedem ukrainischen Geistlichen, der in der Armee, in den Verteidigungsstreitkräften ist. Sie stünden an der vordersten Front, sie schützten das Leben und die Menschlichkeit, sie unterstützten mit Gebeten, Gesprächen und Taten. "Das ist es, was die Kirche ist – bei den Menschen."
Russland sieht in den Aussagen eine Bestätigung der eigenen Haltung. "So wie ich es sehe, bittet der Papst den Westen, seine Ambitionen beiseite zu legen und zuzugeben, dass er falsch lag", sagt die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, der italienischen Nachrichtenagentur Ansa. Demnach sagt Sacharowa, der Westen benutze die Ukraine um Russland zu schwächen. Sie erklärt weiter, Russland habe nie Verhandlungen blockiert.
Russland verstehe die Aussagen nicht als Aufruf an die Ukraine zur Kapitulation, sondern als Plädoyer für Verhandlungen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Kremlchef Wladimir Putin habe immer wieder davon gesprochen, bereit und offen zu sein für Verhandlungen. "Das ist der bevorzugte Weg", sagte Peskow. Westliche Politiker und Beobachter haben in der Vergangenheit Zweifel darüber ausgedrückt, dass Moskau ernsthaft zu Gesprächen bereit ist.
Die Nato hat den Vorstoß des Papstes zurückgewiesen. "Kapitulation ist kein Frieden", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag in Brüssel, ohne Papst Franziskus namentlich zu nennen. Stoltenberg sagte weiter: "Präsident Putin hat diesen Krieg begonnen und er könnte ihn heute beenden. Die Ukraine hat diese Option dagegen nicht." Er rief alle Verbündeten auf, Kiew weiterhin militärisch zu unterstützen.
Das sagt die Presse
"Nürnberger Nachrichten": "Putin dürfte sich freuen über die Worte des Papstes. Franziskus ruderte zwar zurück beim Begriff 'weiße Fahne'. Doch er sprach eben auch davon – also von einer Kapitulation Kiews. Das wäre weit mehr als Verhandlungen. Damit unterstützt der Papst leider und sicher unfreiwillig sogar Putin – der setzt auf Zeit, Zermürbung und darauf, dass er aus dem geknechteten Russland keinerlei Widerspruch befürchten muss. Hat er in der Ukraine auch nur etwas Erfolg, macht er weiter."
"Neue Osnabrücker Zeitung": "Der Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit für die gesamte Ukraine ist groß, verständlicherweise. Aber die Mittel der Ukraine und des Westens sind begrenzt. Das meint der Papst. Deshalb ist Franziskus noch lange kein Ukraine-Verräter oder Putins Papst. Im Gegenteil. Je länger der Angriffskrieg dauert, je mehr russische Soldaten fallen, je weniger die ukrainische Armee den Aggressoren etwas entgegenzusetzen hat, desto höher wird der Preis sein, den Kiew eines Tages für einen Waffenstillstand zahlen muss. Es geht nicht um Kapitulation. Mit jeder weiteren ukrainischen Niederlage auf dem Schlachtfeld wird jedoch ein Diktatfrieden von Putins Gnaden wahrscheinlicher."
"Volksstimme" (Magdeburg): "Der Friedensappell aus dem Vatikan ist blanker Hohn – und diskreditiert den Papst als ehrlichen Makler zwischen den Kriegsparteien, als der er sich mehrfach angeboten hat. Denn er empfiehlt einseitig den ukrainischen Opfern die Aufgabe – und nicht den russischen Tätern den Rückzug."
"Südkurier", Konstanz: "Wundern muss man sich nicht: Der Papst ruft zum Frieden auf – was sollte das Kirchenoberhaupt anderes tun? Demnächst steht Ostern an, wo an Jesu Auferstehung erinnert wird und an dessen Worte zu seinen Jüngern: ‘Der Friede sei mit euch.‘ In einer Welt, in der vorwiegend über Waffenlieferungen diskutiert wird, kann ein pazifistisches Gegengewicht auch guttun."
"Reutlinger Generalanzeiger": "Natürlich erhebt die katholische Kirche den Anspruch, eine moralische Instanz zu sein. Insofern mag es befremdlich erscheinen, dass Franziskus nicht zwischen den ukrainischen Opfern und den russischen Aggressoren unterscheidet. Doch genau das macht die Position der Kirche aus. Sie unterscheidet nicht zwischen Schuld und Unschuld. Die Kirche verurteilt nicht, sie ruft zur Versöhnung und zum Ausgleich auf. Immer, wenn sie von diesem Weg abgewichen ist, nahm es kein gutes Ende."
"Pforzheimer Zeitung": "Es stimmt zwar, dass die militärische Lage für die Ukraine derzeit prekär ist. Dennoch kommt die ‘weiße Fahne‘ für die große Mehrheit der Menschen in der Ukraine nicht infrage. Weil sie den Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung bedeuten würde. Dass Franziskus das nicht respektiert, ist eine Schande."
"The Telegraph", London: "An Mut hat es den Ukrainern nicht gefehlt. Aber spricht der Papst vielleicht nur aus, was viele weltliche Führungskräfte in Europa, Amerika und anderswo denken: dass die Ukraine nicht gewinnen kann und versuchen sollte, weiteres Blutvergießen zu vermeiden? (...) Bislang hat die Nato erklärt, sie werde der Ukraine ‘so lange wie nötig’ helfen, Russland aufzuhalten. Doch diese Zusage wird durch schleppende Waffenlieferungen an Kiew widerlegt."