Pressestimmen "EU-Verfassung tot und begraben"

Mit Enttäuschung und Besorgnis haben Staats- und Regierungschefs auf das klare Nein der Niederländer zur EU-Verfassung reagiert. Eine Auswahl der Donnerstagausgaben europäischer Tageszeitungen.

"Trouw" (Den Haag)

"Ihr (der Niederländer) Nein ist ein kräftiges Signal für die ernsthafte Sorge über die Entwicklung Europas. Gewohnte Sicherheiten sind unter Druck geraten, ohne dass Politiker dem eine Hoffnung weckende und beruhigende europäische Perspektive gegenüber stellen konnten. Die Wähler haben kräftig an der Notbremse gezogen. Das ist ein dramatischer Eingriff, der nicht so einfach abgetan werden darf: Die Politik wird ernsthaft mit sich selbst zu Rate gehen müssen."

"ABC" (Madrid)

"Innerhalb von 72 Stunden hat sich das Szenarium in Europa verfinstert. Auf dem Kontinent macht sich eine Atmosphäre von Pessimismus breit. Die Wolken des Neins ließen einen kräftigen Schauer von Euro-Skeptizismus niedergehen. Die EU-Verfassung hat sich als anfälliger für Kritik erwiesen, als die Schöpfer geglaubt hatten. Aber man darf sich nichts vormachen. Einige Politiker tun so, als käme diese Entwicklung unverhofft. Dabei war das Nein der Niederländer und Franzosen absehbar. Es ist klar, dass es in der EU an Voraussicht gefehlt hat. Jetzt wäre es gut, wenn die Betreffenden den Mut fänden, sich zu ihrer Verantwortung zu bekennen."

"La Repubblica" (Rom)

"Nach dem Alarm in Frankreich gibt es jetzt die niederländische Bestätigung. Frankreich war also nicht die große Ausnahme von der allgemeinen (...) Treue zu Europa. Im Gegenteil: Das massive "Nein" aus Holland erinnert uns daran, dass ausgerechnet hier alles vor drei Jahren angefangen hatte, als die öffentliche Hinrichtung von Pim Fortuyn ein deutliches Anzeichen für den Verlust der "Unschuld" des gesamten Kontinents war (...). Heute - drei Jahre später - muss sich die gesamte europäische Politik, die gesamte Führungsklasse, plötzlich mit dem Versagen der letzten Ideologie beschäftigen, die den Tod der politischen Religionen des 20. Jahrhunderts überlebt hatte: Und zwar mit jenem Europäismus, der keine Politik und Leidenschaft kennt; er hat sich wie ein Baukasten von inneren und äußeren Regeln errichtet, in der Überzeugung, dass er nur wachsen und gedeihen könnte, bis er schließlich vollendet und verwirklicht ist."

"De Volkskrant" (Den Haag)

"Die vernünftigste Weisung der letzten Tage kam von der britischen Regierung, die zu einer Periode des Nachdenkens und der Beratung aufrief. Die EU hört nicht auf zu funktionieren. Es gibt noch immer eine breite Grundlage für die europäische Zusammenarbeit. Aber die geplante Neuausrichtung der Führung in einer erweiterten Union muss eine bescheidenere Gestalt bekommen. Ohne die Fanfare einer Verfassung, ohne institutionelle Husarenstücke. Und in dem nüchternen Bewusstsein, dass ein föderales Europa am 29. Mai und am 1. Juni von der Tagesordnung gestrichen worden ist."

"The Times" (London)

"Das überwältigende Nein des gestrigen niederländischen Referendums ist ein noch tödlicherer Schlag für die europäische Verfassung als die deutliche Zurückweisung des unter einem schlechten Stern stehenden Dokuments durch die Franzosen. Denn während die Franzosen mit ihrem "Non" lang aufgestaute Frustrationen über ihren Präsidenten, ihre Regierung und den Stand der Dinge in ihrem Land ausdrückten, haben sich die Niederländer voll und ganz gegen den Zustand der Europäischen Union gerichtet und sich angewidert abgewandt. Dieses Nein ist, deutlich mehr als das französische, eine Zurückweisung der Richtung, in die die Verfassung für die Europäische Union zeigt. Dies muss respektiert werden."

"Kurier" (Wien)

"Ist die neue EU-Verfassung schon tot oder kann sie noch weiterleben? Nach dem holländischen "Nee" sieht der derzeitige Entwurf jedenfalls noch älter aus. Auch wenn 25 Regierungen dem Vertrag längst zugestimmt hatten. Die Krise der europäischen Repräsentativ-Systeme ist voll sichtbar geworden. Da gibt es kein Zurück zu "business as usual" mehr. Alle, Politiker wie auch Journalisten, müssen erkennen, dass sie vor einer riesigen Nachholarbeit an Aufklärung stehen. Viel zu viele Wahrheiten, etwa, dass alles seinen Preis hat, sind verleugnet oder schön geredet worden. Nun rächen sich alle Versäumnisse auf einmal. Der Weg der vollendeten Tatsachen war ein Holzweg."

"Politiken" (Kopenhagen)

"Das niederländische Nein ist zugleich diffuser und substanziell EU-kritischer als das französische. Vor allem ist es geprägt von Fremdenangst, die in den letzten Jahren die Tagesordnung bestimmt hat. Wie in Dänemark, ist man zu sagen versucht. Aber im Guten wie im Schlechten ist diese Stimmung weniger politisch gesteuert und wirkt deshalb auch destabilisierender als bei den Dänen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass ein alles in allem so gut funktionierendes Land wie die Niederlande nicht irgendwann die Vorteile eines vertrauensvolleren politischen Klimas wiederentdecken wird. Vorerst aber haben die frustrierten und verunsicherten Niederländer ihren ganz großen Beitrag zu der gewaltigen europäischen Krise geleistet, in der wir plötzlich stecken."

"Der Standard" (Wien)

"Die EU ist nicht nur ein außerordentlich erfolgreiches Instrument zur Schaffung und Sicherung des Friedens in Europa. Die EU könnte auch ein außerordentlich erfolgreiches Instrument für bessere (Wirtschafts-) Politik im Interesse der Menschen und gegen die Auswüchse des entfesselten Kapitalismus sein. Aber dazu braucht es Druck von unten, der sich nicht nur in einem "oui" oder "non" zu einem Verfassungsprojekt ausdrücken kann, sondern der täglich und auch in den Institutionen spürbar und wirksam wird. Dafür brauchen wir mehr Demokratie, stärkere Parlamente und die Einschränkung der Macht der Staats- und Regierungschefs. Das zu vermitteln ist offenbar nicht gelungen. Daher wurde nun der Falsche geschlagen."

"Kommersant" (Moskau)

"Die nächste Pleite der EU-Verfassung zwingt zum Nachdenken, was das heutige Europa eigentlich noch darstellt. Auf dem Weg zur Einigung macht man derzeit einen Schritt nach vorn und zwei zurück. Es verstärkt sich der Eindruck, dass das geeinte Europa sich durch die Erweiterung seiner Grenzen in ein undefinierbares politisches Objekt wandelt. Damit geht die Vorbildfunktion als klar definierte Union für bislang weniger erfolgreiche Bündnisse wie die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) verloren."

"Le Figaro" (Paris)

"Frankreich und die Niederlande geben EU-Verfassungsgegnern in Luxemburg und Dänemark, wo auch Volksabstimmungen geplant sind, großen Auftrieb. Die Verführung ist groß, alles zu beenden. (Der britische Premier) Tony Blair lässt durchblicken, dass er auf ein versprochenes Referendum verzichten könnte. Wenn man auf die Verfassung verzichtet, muss man wissen, was man tut. Um den Schock nach der Ablehnung in Frankreich zu überwinden, braucht man in Europa eine stärkere Autorität als die von (EU-Kommissionspräsident José Manuel) Barroso, die eine klare Handlungsweise vorgibt, an die sich alle halten müssen. Andernfalls könnte die Krise, die in Frankreich begann und die Niederlande angesteckt hat, noch schlimmeren Schaden anrichten."

"The Guardian" (London)

"Zu viele - in Frankreich, den Niederlanden und darüber hinaus - sehen die europäische Integration eher als Problem denn als Lösung (...). Nachdem sie höflich auf das niederländische Ergebnis gewartet hat, muss die EU mit offenen Augen an das Problem heran, was jetzt zu tun ist. Es wäre falsch, die unmissverständliche, wenn auch starrköpfige Botschaft der beiden Volksabstimmungen zu ignorieren. Es wäre falsch, nochmals in den beiden Ländern abstimmen zu lassen. Es wäre auch witzlos, mit den geplanten Referenden in Dänemark, Polen, Irland und Tschechien wegen des Risikos eines Dominoeffekts mit noch größeren Neins weiterzumachen - trotz Appellen aus Deutschland und von einigen französischen Europhilen, die ängstlich darauf bedacht sind, den schädlichen Effekt ihres Votums abzuschwächen. Das gleiche gilt für ein Referendum in diesem Land."

"Rzeczpospolita" (Warschau)

"Die Zurückweisung der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden bedeutet nicht die Zurückweisung des europäischen Projekts. Wenn 55 Prozent der Franzosen und 63 Prozent der Niederländer nicht in der Union sein wollten, hätten sie für die neue Verfassung gestimmt. Die Verfassung vermerkt zum ersten Mal die Bedingungen für einen Austritt aus der EU. (...) Die Volksabstimmungen sind eine Niederlage der Verfassung, nicht Europas. Allgemeine Wahlen, die in beiden Ländern zwei Drittel der Wähler mobilisieren, sind ein großer Erfolg der Demokratie. Die Niederlage der Verfassung verursachten die Landespolitiker, die in der Regel eigene Probleme Entscheidungen aus Brüssel zuschreiben."

"Tages-Anzeiger" (Zürich)

"Weil die EU derzeit als Wirtschaftsgemeinschaft keine Erfolge bieten kann, hat sie bei Referenden einen schweren Stand. Doch - und dies ist die Krux - wird die Krise, die die Franzosen und die Niederländer mit ihrem doppelten Nein der EU und ihren Regierungen bereitet haben, da nicht weiterhelfen. Im Gegenteil: Die zwingend notwendigen Reformen werden bestenfalls aufgeschoben. Bereits angeschlagene Regierungen werden sich vor jenen unpopulären Liberalisierungsschritten hüten, die Europa längerfristig wieder höheres Wachstum bringen."

"La Croix" (Paris)

"(Premierminister) Dominique de Villepin verkörpert die Kontinuität und (Staatsminister) Nicolas Sarkozy den Bruch mit dieser Kontinuität. (Präsident Jacques) Chirac lässt diese beiden konträren Persönlichkeiten nebeneinander bestehen. Es ist die Frage, ob die republikanischen Vorstellungen Villepins sozial und wirtschaftlich mit dem Liberalismus Sarkozys zu vereinbaren sind. Die Franzosen erwarten konkrete Handlungen, besonders hinsichtlich des Schutzes ihrer Arbeitsplätze. Chirac wird ein Gleichgewicht zwischen Villepin und Sarkozy halten müssen, weil die Wirksamkeit der Regierung davon abhängt."

"Information" (Kopenhagen)

"Wir erleben jetzt, wie schwer eine gemeinsame Antwort auf die Frage zu finden ist, wohin die EU sich entwickeln soll. Die Verfassung ist in den Niederlanden und Frankreich aus völlig unterschiedlichen Gründen abgelehnt worden. In Großbritannien wird sie auch fallen, aber aus genau den entgegengesetzten Gründen wie in Frankreich. Die EU-Staats- und Regierungschefs müssen nun mit einem außergewöhnlich kraftvollen und diplomatisch geschickten Einsatz einen gemeinsamen Weg nach vorn finden. Aber die EU hat auch schon früher gerade mit der Fähigkeit brilliert, sich durch Kompromisse aus schwierigen Problemen zu befreien. Man muss um Europas willen hoffen, dass die eigenen Fähigkeiten dazu auch diesmal reichen. Ein Triumph für die äußerste Rechte (...) wäre eine historische Katastrophe und würde gefährliche Instabilität erzeugen."

DPA
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