An jenem Apriltag vor knapp zwei Jahren, als zwei Sprengsätze beim Bostoner Marathonlauf explodierten, verschickte Dschochar Zarnajew mitfühlende Worte über den Onlinedienst Twitter. "Keine Liebe im Herzen der Stadt. Passt auf Euch auf, Leute", schrieb er nach den Anschlägen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass Zarnajew vier Tage später als Hauptverdächtiger für die Attacke schwer verletzt in einem trockengelegten Boot kauern würde. Der junge Mann, in dessen Prozess nun die Eröffnungsplädoyers anstehen, wirkte wie ein normaler US-Teenager.
Doch die Worte, die Zarnajew kurz vor seiner Festnahme an die Innenwand des Bootes gekritzelt haben soll, zeichnen ein anderes, dunkleres Bild. Medienberichten zufolge bezeichnete der damals 19-Jährige die Opfer des Anschlags darin als "Kollateralschaden" und warf der US-Regierung die Tötung "unschuldiger Zivilisten" im Irak und in Afghanistan vor. "Wir Muslime sind ein Körper. Wer einen von uns tötet, verletzt uns alle", schrieb er demnach weiter.
Die blutverschmierte Botschaft an der Bootswand bestärkte die Ermittler in ihrer Annahme, dass Dschochar Zarnajew und sein älterer Bruder Tamerlan den Anschlag am 15. April 2013 mit einem islamistischen Motiv verübten. Drei Menschen kamen bei der Explosion der beiden selbst gebauten Bomben ums Leben, mehr als 260 Menschen wurden verletzt. Auf ihrer Flucht sollen die Brüder außerdem einen Polizisten erschossen haben. Auch der 26-jährige Tamerlan kam ums Leben, bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei.
Wer in Boston ist unvoreingenommen?
Der Prozess gegen Dschochar Zarnajew läuft seit Anfang Januar vor einem US-Bundesgericht in Boston. Die Auswahl der Geschworenen zog sich zwei Monate hin - wegen der Schneestürme in der Ostküstenstadt, aber auch wegen der vergeblichen Bemühungen der Verteidigung, das Verfahren an einen anderen Ort zu verlegen. Zarnajews Anwälte bezweifeln, dass sich in Boston eine unvoreingenommene Jury finden lässt.
Dem mittlerweile 21-Jährigen werden 30 Anklagepunkte vorgeworfen, darunter der Gebrauch einer "Massenvernichtungswaffe". Bei einem Schuldspruch droht ihm die Todesstrafe. Laut Anklageschrift sollen die Brüder den Anschlag gemeinsam geplant und die Bomben aus Schnellkochtöpfen, Schwarzpulver und Splittern zusammengebaut haben. Die Anleitung sollen sie Internetseiten des Terrornetzwerks al Kaida entnommen haben.
Seit 2012 US-Bürger
Dschochar wurde 1993 in der früheren Sowjetrepublik Kirgistan geboren, seine Familie stammt ursprünglich aus Tschetschenien. Später lebten die Zarnajews in der russischen Kaukasus-Republik Dagestan, ehe sie 2002 in die USA auswanderten. Seine Jugend verbrachte Dschochar im Bostoner Vorort Cambridge, war Kapitän des Ringer-Teams seiner High School und bekam dank guter Noten ein Universitätsstipendium. Der junge Mann mit dem zerzausten Haarschopf schrieb sich an der University of Massachusetts in Dartmouth für Meeresbiologie ein, 2012 erhielt er die US-Staatsbürgerschaft.
Dschochar Zarnajew war US-Medien zufolge dem Partyleben an der Uni nicht abgeneigt, rauchte manchmal Marihuana und brüstete sich auf Twitter mit seinen Eroberungen. Wie und warum sich der beliebte Teenager radikalisierte, darauf könnte nun der Prozess endlich eine Antwort geben. Eine Rolle spielte womöglich das Auseinanderbrechen seiner Familie: Zarnajews Eltern trennten sich laut "New York Times" im Herbst 2011. Zunächst ging der Vater, dann auch die Mutter zurück nach Russland.
Welchen Einfluss hatte der Bruder?
Zarnajew geriet der Zeitung zufolge zunehmend unter den Einfluss seines älteren Bruders, der sich immer stärker der Religion zuwandte. Anfang 2012 reiste Tamerlan für sechs Monate in den Kaukasus, möglicherweise hatte er während des Aufenthalts Kontakt zu extremistischen Gruppen. Der russische Geheimdienst schickte bereits im März 2011 eine Warnung an die US-Bundespolizei FBI, in der Tamerlan Zarnajew als "Anhänger des radikalen Islam" beschrieben wurde. Die Verteidigung könnte daher versuchen, die Tat vor allem dem älteren Bruder zur Last zu legen.