Der Druck auf Tunesiens Staatsoberhaupt Zine El Abidine Ben Ali wächst. Immer neue Demonstrationen und gewaltsame Ausschreitungen mit Toten erschüttern das Land. Ein Großteil der Bevölkerung teilt die Kritik der Demonstranten an der Arbeitslosigkeit im Land und der Vetternwirtschaft des seit 1987 regierenden Präsidenten. Die Staatsführung gerät bislang aber nicht ins Wanken. Denn die seit Jahren unterdrückte Opposition ist nicht in der Lage, Alternativen zu Ben Ali (74) aufzuzeigen.
66 Tote seit Dezember
Mindestens 66 Tote dokumentiert eine Menschenrechtsorganisation seit Beginn der Unruhen Mitte Dezember. In der Nacht zu Donnerstag wurden erneut etliche Menschen von Sicherheitskräften erschossen - trotz einer Ausgangssperre kam es vor allem in den Vororten der Hauptstadt Tunis zu Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Demonstranten und Sicherheitskräften. Und am Donnerstag wurde auch das Zentrum von den Unruhen erfasst. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei im wichtigsten Einskaufszentrum der Stadt wurden fünf Menschen durch Schüsse verletzt. In der Stadt Sidi Bouzid, wo die Proteste im vergangenen Monat begannen, gingen Tausende regierungsfeindliche Demonstranten auf die Straße. Eine explosive Lage, die das Auswärtige Amt veranlasst hat, von Reisen nach Tunesien derzeit abzuraten.
Selbst wenn die Proteste zu einem Sturz von Ben Ali führen sollten, wäre auch ein Thronfolger aus dem eigenen Clan kaum mehr vorstellbar. Habgier, Korruption und Vetternwirtschaft - das sind die Begriffe, die mit "La Famille" (Die Familie) in Verbindung gebracht werden. Auch die islamistischen Kräfte im Land gelten bislang noch als zu schwach, als dass sie entscheidend in die Geschehnisse eingreifen könnten.
Selbst langjährige politische Beobachter müssen passen, wenn sie nach der weiteren Entwicklung der Situation gefragt werden. "Es ist nicht erkennbar, wer gegebenenfalls als Nachfolger auftreten könnte. Es drängt sich niemand auf", sagt Ralf Melzer, der in Tunis die Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. Im anderen politischen Lagern sei allerdings auch niemand zu finden. "Die Oppositionsparteien sind personell und strukturell nicht in der Lage, sich an die Spitze der Proteste zu setzen", so der 43-Jährige. Zumindest in dieser Hinsicht hatten die Einschüchterungen und Repressionen des Staatschefs Erfolg.
Versprechungen der Regierung reichen nicht aus
Im Präsidentenlager gab es schon oft Gerüchte über mögliche Thronfolger aus den eigenen Reihen. Präsidentengattin Leila Ben Ali wurden Ambitionen nachgesagt, ebenso Ex-Außenminister Abdelwaheb Abdallah oder dem schwerreichen Geschäftsmann und Schwiegersohn Mohamed Sakhr El Materi. Bekennen wollte sich Ben Ali allerdings nie zu einem der möglichen Kandidaten. Stattdessen bildete sich bereits im vergangenen Jahr eine Bewegung, die eine weitere Amtszeit des amtierenden Präsidenten propagierte. Diese würde 2014 beginnen und bis 2019 dauern.
Ob Ben Ali die Situation noch einmal in den Griff bekommt, ist fraglich. Keine seiner in den vergangenen Tagen angekündigten Maßnahmen haben dazu geführt, dass sich die Lage beruhigt. Weder das Versprechen, in zwei Jahren 300.000 Arbeitsplätze zu schaffen, noch die Ankündigung, festgenommene Demonstranten freizulassen. Auch die nächtliche Ausgangssperre wurde nicht befolgt.
Wenn die Regierung nicht aufhöre, die Demonstranten zu kriminalisieren und die Sicherheitskräfte weiter schießen, dann sei es wahrscheinlich, dass es mit Ben Ali nicht weitergehe, meint Melzer. Der Präsident müsse nun eindeutige Signale senden: "Ich habe verstanden, dass Ihr nicht auf die Straßen geht, weil ihr dem Land schaden wollt, sondern weil ihr für eine Verbesserung eures Lebens demonstriert" - ein solcher Satz könne vielleicht etwas Ruhe bringen, so Melzer.
Heftige Kritik aus Deutschland und den USA
Und auch der internationale Druck auf Ben Ali wächst. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) rief Tunis am Donnerstag auf, das "massive Vorgehen" gegen Demonstranten zu beenden. Westerwelle rief Tunis auf, die Menschen- und Bürgerrechte zu achten. Zu einer weiteren Annäherung an die EU gehöre die Achtung rechtsstaatlicher Grundsätze. Am Freitag berät das politische und sicherheitspolitische Komitee der EU erneut über Tunesien, das mit Brüssel seit 1995 über ein Assoziationsabkommen verbunden ist. Wie aus Diplomatenkreisen verlautete, wird aufgrund der Unruhen erwogen, die weitere Annäherung vorerst auf Eis zu legen.
US-Außenministerin Hillary Clinton appellierte an die arabischen Staaten, sich zu öffnen und ihre Zivilgesellschaften als "Partner" zu sehen. Clinton kritisierte die arabischen Staats- und Regierungschefs deutlich: Die Bevölkerung der Region habe genug von "korrupten Institutionen" und "stagnierender" Politik, sagte sie auf einem Zukunftsforum in Doha. Zu wenige arabische Staaten hätten Pläne für die Zukunft. Vor allem jungen Menschen müsse aber eine Perspektive geboten werden, damit Extremisten nicht zum Zuge kämen.
Auf schnelle Erfolge bei der Bekämpfung der Ursachen der Unzufriedenheit kann Ben Ali nicht hoffen. An den Universitäten wurden in den vergangenen Jahren Hunderttausende junge Menschen ausgebildet. Doch Jobs für Hochschulabsolventen sind Mangelware. Die Arbeitslosenquote in dieser Gruppe wird auf über 30 Prozent geschätzt.