Die sechs Reaktorblöcke des Atomkraftwerks Saporischschja stehen aufgereiht am Fluss Dnjepr im Südosten der Ukraine. Die sechs Blöcke haben eine Leistung von 6000 Megawatt, womit das AKW das größte in Europa ist. Es ist von großer Bedeutung für die Stromversorgung der Ukraine, versorgt es doch fast den gesamten Süden des Landes mit Energie.
Doch die Anlage bereitet Expertinnen und Experten im Westen Sorgen. Denn kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges hatten russische Truppen das AKW besetzt. Es kam zu Angriffen infolge der Kampfhandlungen, bei denen etwa Gebäude beschädigt wurden. Nach Recherchen des US-Radiosenders NPR seien die Schäden aber weitaus größer – und gefährlicher. Eine russische Granate sei etwa nur unweit eines Reaktorblocks eingeschlagen.
Lage in AKW Saporischschja "fragil" und "äußerst unbeständig"
Nach den Angriffen und der Besetzung wurde das Kernkraftwerk von ukrainischem Personal weiterbetrieben, aber von russischen Nuklearspezialisten überwacht. Nach der russischen Besetzung war zwischenzeitlich nur ein Reaktor in Betrieb, inzwischen sind es wieder drei, so die Internationale Atomenergiebehörde IAEA.
Die Lage vor Ort besorgt aber die Atombehörden und Regierungen im Westen. Der Chef der IAEA hat die Lage etwa als äußerst unbeständig und fragil bezeichnet. "Alle Prinzipien nuklearer Sicherheit wurden auf die eine oder andere Art verletzt", sagte Rafael Grossi bei einer Pressekonferenz am Uno-Sitz in New York am Dienstagabend.
Eine IAEA-Inspektion zur Prüfung der technischen Sicherheit sei dringend erforderlich, sagte Grossi. Aber es sei momentan sehr schwierig für die IAEA, überhaupt ins Kriegsgebiet nach Saporischschja zu kommen. Denn dafür brauche die IAEA nicht nur die Einwilligung der Ukraine und die Unterstützung der Vereinten Nationen. Man müsse auch mit Russland als Besatzer des Ortes übereinkommen.
Die Ukraine wehrt sich gegen eine IAEA-Mission, weil diese nach Meinung Kiews die Anerkennung der russischen Besatzung bedeuten würde.
USA und Großbritannien: Russen setzen AKW als Schutzschild ein
Auch britische Geheimdienste zeigen sich besorgt: Ihrer Ansicht nach gefährden Aktionen der russischen Streitkräfte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Sicherheit des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja. Moskaus Absichten im Hinblick auf das größte Atomkraftwerk in Europa seien fünf Monate nach Beginn des Krieges noch immer unklar, hieß es am Freitag in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums.
Die Russen setzten wohl Artillerieeinheiten in den an das Kraftwerk angrenzenden Gebieten ein, um ukrainische Regionen westlich des Dnjepr-Flusses anzugreifen. Womöglich nutzten sie dabei den Hochsicherheitsstatus des Kraftwerkgeländes aus, um sich und ihre Ausrüstung vor nächtlichen ukrainischen Gegenangriffen zu schützen, hieß es.
Anfang der Woche hatte auch US-Außenminister Antony Blinken eine ähnliche Besorgnis der US-Regierung geäußert. Es gebe glaubhafte Berichte, dass Russland die Anlage bei Saporischschja als eine Art Schutzschild benutze, also aus der Nähe der Anlage auf ukrainische Kräfte schieße. Die Ukrainer wiederum können nicht zurückschießen, weil es dadurch zu einem schrecklichen atomaren Unfall kommen könnte, wie Blinken beklagte.

Russland wies die Anschuldigungen zurück. "Wir haben wiederholt erklärt, dass die Aktionen unserer Streitkräfte in keiner Weise die nukleare Sicherheit der Ukraine untergraben oder den Routinebetrieb des KKW (Kernkraftwerk) behindern", sagte die russische UN-Mission in einer Erklärung.
Bundesamt für Strahlenschutz: Gefahr für Deutschland gering
Der einzige Zweck der Übernahme von Saporischschja durch die russischen Streitkräfte sei es, "ukrainische nationalistische Formationen und ausländische Söldner daran zu hindern, die aktuelle Situation in der Ukraine zu nutzen, um eine nukleare Provokation mit höchst unvorhersehbaren Folgen durchzuführen".
Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) weist auf Gefahren hin, sollte das Kernkraftwerk in Kampfhandlungen verwickelt werden – allerdings für Russland. Florian Gering, Leiter der Abteilung "Radiologischer Notfallschutz", sagte dem MDR, dass in einem solchen Fall von dem AKW eine beträchtliche Gefahr ausgehe, die aber für Russland ungleich größer als für Deutschland sei.
Dies läge an der Entfernung und der meist vorherrschenden Windrichtung. Von der Grenze zu Russland sei Saporischschja etwas mehr als einhundert Kilometer entfernt. Russland könne kein Interesse daran haben, dort einen schweren Unfall zu provozieren, so Gering.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges beobachtet das BfS nach eigenen Angaben die Lage in dem Land. Besonderes Augenmerk lege man in einer "24/7-Beobachtung" auf die Kernkraftwerke Saporischschja und das stillgelegte AKW Tschernobyl, dessen Besetzung durch russische Truppen Ende März beendet wurde. "Nach Einschätzung des BfS besteht keine akute Gefahr einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Es liegen auch keine Hinweise vor, dass in der Ukraine radioaktive Stoffe freigesetzt worden sein könnten", heißt es in der Mitteilung vom 20. Juli.
Eindringlicher Appell des IAEA-Chefs
Allerdings seien die Informationen aus der Ukraine nur schwer zu überprüfen, es gebe aus Kampfgebieten wenig verfügbare Messdaten. "Alle vorliegenden radiologischen Messwerte bewegen sich aber im normalen Bereich."
In der Ukraine gibt es neben dem AKW in Saporischschja noch drei weitere Kraftwerke. Insgesamt gibt es nach OECD-Angaben 15 Reaktoren.
In Chmelnyzkyj werden zwei Reaktoren betrieben. Das Kraftwerk wurde am 11. März von der IAEA inspiziert. In der Stadt Riwne werden drei von vier Reaktoren betrieben. Eine IAEA-Inspektion fand am 22. Juli statt. Das dritte, das Kernkraftwerk Süd-Ukraine, hat drei Reaktoren, von denen zwei in Betrieb sind. In allen AKW scheint die Lage aber nicht bedenklich oder fragil zu sein.
Anders sieht es immer noch in Saporischschja aus. Es gebe "eine paradoxe Situation", in der das Kraftwerk von Russland kontrolliert werde, aber sein ukrainisches Personal weiterhin seine Nuklearoperationen führe, was zu unvermeidlichen Momenten der Reibung und angeblicher Gewalt führe, so IAEA-Chef Grossi. Die IAEA habe zwar einige Kontakte zu Mitarbeitern, diese seien jedoch "fehlerhaft" und "lückenhaft".
Grossi sagte, die Lieferkette für Ausrüstung und Ersatzteile sei unterbrochen worden, "also sind wir nicht sicher, ob das Werk alles bekommt, was es braucht." Man habe einen "Katalog von Dingen, die niemals in einer Atomanlage passieren sollten".
Die IAEA müsse deshalb nach Saporischschja fahren und es inspizieren, um die Fakten darüber zu sammeln, was dort tatsächlich passiert, damit Reparaturen und Inspektionen durchgeführt werden können und um "einen nuklearen Unfall zu verhindern", so Grossi.
"Also bitte ich als internationaler Beamter, als Leiter einer internationalen Organisation, ich bitte beide Seiten, diese Mission fortzusetzen."
Quellen: Nachrichtenagenturen DPA, AFP, Reuters und AP, MDR, NPR, Bundesamt für Strahlenschutz, IAEA, OECD