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Streit um Laufzeitverlängerung Atomkraft? Wenn's sein muss! Warum sich der Ton in der Akw-Debatte ändert

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) äußert sich zur Debatte um Atomkraftwerke
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen): "Die Frage, die relevant gestellt werden muss, ist, ob die Stromnetzstabilität in diesem Jahr durch weitere Maßnahmen gesichert werden muss"
© Kay Nietfeld / DPA
Lange war die Debatte um eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke spaltbares Material in der Ampel-Koalition. Nun deutet sich Bewegung bei dem Streitthema an. Warum?

Es ist noch gar nicht so lange her, je nach Wortmeldung kaum einen Monat, da war jedwede Laufzeitverlängerung der drei deutschen Atomreaktoren, die noch am Netz sind, zumindest rhetorisch in weiter Ferne.

Doch der Ton ändert sich. Union und FDP hatten sich schon länger für eine Debatte ausgesprochen, in der die "Argumente vorurteilsfrei auf den Tisch" kommen, wie Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) forderte, nun zeigen sich auch Teile der SPD dafür offen. Und selbst die atomkritischen Grünen scheinen auf einmal beweglich. Atomkraft? Aus dem kategorischen "Nein, danke!" könnte ein "Wenn's sein muss" zu werden.

Ein mögliches "Sonderszenario" und ein ganz klares "Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein"

Denn auch die Lage hat sich geändert. Deutschland steuert wohl auf eine Energiekrise zu, sollte russisches Gas weiter in geringer Menge durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 fließen. Zuletzt wurden die Liefermengen erneut gedrosselt. Es ist ein Nervenkrieg mit ungewissem Ausgang. Könnte Atomkraft zumindest ein Teil der Lösung sein? 

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), der einer Laufzeitverlängerung abermals eine Absage erteilt hatte – zu großes Risiko bei zu wenig Nutzen –, schließt einen AKW-Weiterbetrieb vor diesem Hintergrund nicht mehr aus. Wenngleich unter bestimmten Voraussetzungen. 

Ein zweiter, weitreichender Stresstest soll nun zeigen, ob eine längere Laufzeit bei möglichen Engpässen im Winter helfen könnte, nachdem ein erster im Frühjahr ergeben hatte, dass die Strom-Versorgungssicherheit Deutschlands selbst unter schwierigen Bedingungen gewährleistet sei.

Aus den Ergebnissen, die in den nächsten Wochen erwartet werden, könne sich ein "Sonderszenario" ergeben, sagte Habeck nun bei "RTL Aktuell". "Die Frage, die relevant gestellt werden muss, ist, ob die Stromnetzstabilität in diesem Jahr durch weitere Maßnahmen gesichert werden muss." Nun schaue man sich an, "ob dieses Jahr so extrem ist, dass dafür noch mal neu ein Szenario aufgemacht werden soll", so Habeck.

Geben die Grünen ihren Widerstand gegen die Kernkraft auf? So will es Winfried Kretschmann nicht verstanden wissen. Doch der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg sagt auch: "Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein" – zu der "Behauptung", so Kretschmann im ZDF, bei einer klaren Ablehnung von verlängerten Atomkraftlaufzeiten zu blieben.

Man müsse die Ergebnisse des Stresstests abwarten. "Es geht ja nur um eine zeitlich begrenzte, eventuelle Verlängerung von noch laufenden Atomkraftwerken", so der Grüne. "Das werden wir sehr nüchtern auswerten und entscheiden". Auch Bundeskanzler Scholz will vor Entscheidungen zunächst die Ergebnisse abwarten, wie eine Regierungssprecherin am Montag mitteilte. 

Der Widerstand mag bröckeln, doch die Skepsis bleibt. Auf dem Weg zu einer Einigung könnte es in der Ampel-Regierung noch zu erbittertem Streit kommen, sind noch allerhand Fragen unbeantwortet: Wie viele Kraftwerke könnten am Netz bleiben? Und für wie lange?

Ist die Akw-Laufzeitverlängerung eine Frage der Solidarität?

Für die FDP, die sich neben der oppositionellen Union schon seit Langem für eine Laufzeitverlängerung ausspricht, geht es auch um Solidarität. "Nicht nur Deutschland steht vor einer schweren Energiekrise, sondern ganz Europa", sagte Fraktionschef Christian Dürr zur Deutschen Presse-Agentur. "Ich wüsste nicht, wie wir unseren europäischen Partnern erklären sollen, dass wir sichere Energiequellen aus ideologischen Gründen abschalten, während Frankreich mit einem Bein in einer Stromkrise steht." Deutschland müsse "jederzeit in der Lage sein, Strom an unsere Nachbarn zu exportieren." Eine Laufzeitverlängerung wäre daher ein "wichtiges Zeichen der europäischen Verbundenheit."

Anders als Deutschland setzt Frankreich zur Stromerzeugung stark auf Atomkraft. Allerdings befinden sich rund die Hälfte der Kraftwerke wegen Defekten oder Wartungen derzeit nicht am Netz, so dass die Meiler weniger Strom als üblich liefern. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) verwies am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will" darauf, dass Deutschland im Moment Strom nach Frankreich exportiere. Dort könnten die Atomkraftwerke nicht mehr arbeiten, weil sie nicht heruntergekühlt werden könnten.

Indirekt, aber ähnlich argumentiert der einflussreiche Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI): "Konsequente gelebte europäische Solidarität heißt für Deutschland, selbst so viel Energie bereitzustellen wie möglich, und zwar aus allen verfügbaren Quellen", sagte das Mitglied der Hauptgeschäftsführung Wolfgang Niedermark.

CDU-Chef Merz macht Druck bei Atomkraft

Für die Union kann es jedenfalls nicht schnell genug gehen. CDU-Chef Friedrich Merz forderte die Bundesregierung auf, umgehend neue Brennstäbe für die drei verbliebenen Kraftwerke zu beschaffen. "Die Bundesregierung muss sich jetzt um neue Brennstäbe bemühen", sagte Merz den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Es könne nicht nur ein vorübergehender Streckbetrieb mit alten Brennstäben aufrechterhalten werden. "Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist." Die Zeit zur Bestellung neuer Brennstäbe laufe davon. Wirtschaftsminister Habeck müsse jetzt handeln, um eine Stromknappheit im Winter zu vermeiden.

Die drei letzten deutschen Meiler müssen nach geltendem Atomrecht eigentlich bis spätestens 31. Dezember vom Netz gehen. Beim Streckbetrieb würden die Kernkraftwerke zunächst gedrosselt, damit sie dann mit den vorhandenen Brennstäben auch über den Jahreswechsel hinaus betrieben werden können.

Der Geschäftsführer des Tüv-Verbands, Joachim Bühler, hält sogar eine rasche Wiederinbetriebnahme der stillgelegten Kernkraftwerke Brokdorf (Schleswig-Holstein), Grohnde (Niedersachsen) und Gundremmingen C (Bayern) sicherheitstechnisch für machbar und unbedenklich. Er sagte zur "Bild"-Zeitung, die Wiederinbetriebnahme der 2021 abgeschalteten Meiler wäre "keine Frage von Jahren, sondern eher von wenigen Monaten oder Wochen" – und vor allem eine Frage des politischen Willens. "Die drei Kraftwerke befinden sich nach unserer Überzeugung in einem sicherheitstechnischen Zustand, der es möglich machen würde, sie wieder ans Netz zu nehmen", sagte Bühler. 

Also? Die Tür zur Atomkraft öffnet sich einen Spalt – aber ob und wann sie aufgestoßen wird, bleibt offen. "Eine Laufzeitverlängerung wird es mit uns nicht geben", bekräftigte auch Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang im "Tagesspiegel". Einen Streckbetrieb schloss sie aber nicht aus. "Wir machen jetzt nochmal den Stresstest beim Strom. Natürlich schauen wir uns die Ergebnisse an, aber Stand jetzt spricht nichts dafür." Dieser Standpunkt liegt nun rund eine Woche zurück. Doch die Lage ändert sich – und der Ton offenkundig auch. 

Mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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