Russland halbiert Lieferungen Nervenkrieg um Nord Stream 1: Was der Kreml mit dem Verwirrspiel bezwecken will

Russlands Präsident Wladimir Putin
Der Verwirrspieler: Russlands Präsident Wladimir Putin
© Dmitry Azarov/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Gashahn auf, Gashahn zu, Gashahn auf… Russland drosselt die Liefermengen durch Nord Stream 1. Schon wieder. Willkürlich? Wohl kalkuliert.

"Keine Überraschung", sagt Robert Habeck, "wenngleich immer wieder ärgerlich". In der Tat hält sich der Knalleffekt in Grenzen, offenbar kommt es genau so, wie es Russlands Präsident Wladimir Putin schon vor Tagen hat erwarten lassen: Die Gaslieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 werden am Mittwochmorgen nochmals reduziert – angeblich, weil nun eine weitere Turbine dringend gewartet werden muss (lesen Sie hier mehr dazu). Ein Vorwand, kritisiert die Bundesregierung. Abermals.

Es ist dieses Déjà-vu, das Bundeswirtschaftsminister Habeck nun zum Beben bringt: Die erneute Gasdrosselung sei zwar "keine Überraschung", aber es sei "immer wieder ärgerlich, dass Gazprom andere Gründe vorschiebt", wie er am Montagabend in den ARD-"Tagesthemen" monierte. "Also, dass sie noch nicht Mal den Mumm haben zu sagen: Wir sind in einer wirtschaftskriegerischen Auseinandersetzung mit euch." 

Was bleibt also festzuhalten? Ist ein Vorwand aus der Welt, schafft der Kreml einen neuen. Und Bundeswirtschaftsminister Habeck ist sichtlich genervt von Putins Spielchen.

Aber welches Kalkül verfolgt der Kreml mit der Liefer-Lotterie, die recht offenkundig keine technischen Gründe hat, sondern politische?

Laut Habeck ist auch das offensichtlich: Russlands Präsident versuche, "die große Unterstützung für die Ukraine zu schwächen und einen Keil in unsere Gesellschaft zu treiben. Dafür schürt er Unsicherheit und treibt die Preise." Ein "perfides Spiel" sei das, in dem Moskau "Farce-Geschichten über diese Turbinen" erzähle, die einfach nicht stimmten.

Zu viele Fragen verweigern sich einer Antwort

Das Verwirrspiel erzielt erste Wirkung, die Aussicht auf eine neuerliche Drosselung der Gaslieferungen ließ den Erdgaspreis weiter ansteigen. Am Dienstagvormittag sprang der als Referenz geltende Terminkontrakt TTF an der Energiebörse in den Niederlanden kurzzeitig über 190 Euro pro Megawattstunde – eine Höhe, die zuletzt im März erreicht wurde, kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Die Unsicherheit am Markt ist offenbar groß, verweigern sich doch zu viele Fragen einer Antwort. Zum Beispiel: Werden die Liefermengen durch Nord Stream 1 bei 20 Prozent verharren? Wieder hochgefahren? Oder noch weiter gedrosselt? Schon morgen könnte Putin den Gasfluss durch die Ostseepipeline sogar komplett kappen lassen. Sicher ist daher nur: Das Gas mag derzeit fließen, doch die Krise bleibt – und damit das bange Bibbern vor dem nächsten Winter.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Auch bei einem Niveau von 40 Prozent müssen wir erhebliche Anstrengungen unternehmen, um gut über den ersten Winter zu kommen", warnte unlängst der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller. Die Sorge vor einem drohenden Engpass in den kommenden Wochen und Monaten wächst. Kommen nur noch 20 Prozent der Maximalkapazität aus der Pipeline, wird die Ersatzbeschaffung entsprechend dringlicher. Und das Auffüllen der Gasspeicher schwieriger.

Experten sind skeptisch, ob das ausgegebene Ziel der Bundesregierung, einen Speicherfüllstand von mindestens 95 Prozent zum 1. November zu erreichen, vor diesem Hintergrund noch zu halten ist:

  • "Die weitere Reduzierung der Gaslieferungen auf 20 Prozent erhöht das Risiko, dass uns im Winter Gas fehlen wird, weil wir große Schwierigkeiten haben werden, unsere Speicher zu füllen", sagte der Energieexperte beim Verband der Chemischen Industrie, Jörg Rothermel, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Das sei eine Unsicherheit, "mit der wir derzeit leben müssen. Niemand weiß, wie sich die Situation entwickelt."
  • "Es wird es deutlich schwieriger machen, die Vorgaben, was den Gasfüllstand angeht, jetzt noch zu erreichen", meint auch der Energie-Experte Jens Südekum von der Universität Düsseldorf im Gespräch mit dem ZDF. Er sehe allerdings eine Chance, "mit einem blauen Auge davon zu kommen": durch Sparen. "Wir würden die schon durchhalten, wenn tatsächlich etwas beim privaten und industriellen Gasverbrauch passiert", sagte er. "Wir müssen dort gut 20 Prozent einsparen. Es ist schon einiges passiert, bei der Industrie. Bei den privaten Haushalten zu wenig." Dort werde bislang nur etwa fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr eingespart. "Es muss deutlich mehr werden." 

Das Verwirrspiel des Kreml führt Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas schmerzhaft vor Augen, einerseits, und fungiert folglich als Druckmittel, das auf Spaltung bedacht ist, andererseits. 

Mit dem Wecken von Begehrlichkeiten (ob bei Lebensmitteln oder Energie) und Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) soll die Entschlossenheit der Länder zu unterminiert werden, die der Ukraine im Kampf gegen Russland zur Seite stehen, und in letzter Konsequenz ihre Prioritäten verschieben. Mit erstem Erfolg: Deutschland läuft es kalt den Rücken herunter, die Sorgen vor steigenden (Energie-)Preisen nehmen immer mehr Raum ein. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock warnte vor womöglich verheerenden innenpolitischen Auswirkungen, sollte das Gas aus Russland ausbleiben.

Habeck Botschaft an die Bundesrepublik

Nach Ansicht der Bundesregierung setzt der Kreml die Gaslieferungen als "ökonomische Waffe" gegen Deutschland und die EU ein (mehr dazu lesen Sie hier). Die aktuelle Gaskrise, und die Sorge vor einer weiteren Zuspitzung, schürt massive Unsicherheit und treibt die Gaspreise – wovon wiederum der russische Staatshaushalt profitiert.

Russland-Experten wie der Ökonom Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik verweisen darauf, dass ein Lieferstopp für Präsident Putin vor allem eine "strategische Frage" sei – nämlich zu welchem Zeitpunkt er den größten Schaden in Deutschland und der EU verursacht.

"Der früheste Zeitpunkt ist nicht unbedingt auch der härteste", sagte Kluge in einem Interview mit n-tv. So gebe ein früher Lieferstopp den EU-Staaten mehr Zeit, sich auf den Winter vorzubereiten und Sparmaßnahmen umzusetzen – etwas das politisch schwerer durchsetzbar ist, solange Gas fließt.

Die Bundesregierung bereitet sich daher auf eine weitere Eskalation vor, auf ein dauerhaftes Verwirrspiel um die Lieferungen. Putin nutze die Mittel, die er habe, sagte Bundeswirtschaftsminister Habeck am Montagabend in den ARD-"Tagesthemen". Auch das sei keine Überraschung, man sei darauf vorbereitet. Doch: "Wir sind in einer ernsten Situation. Es wird auch Zeit, dass das alle verstehen." Erneut appellierte er, den Gasverbrauch zu reduzieren. Deutschland müsse zusammenstehen und sagen: "Ja, Putin hat das Gas, aber wir haben die Kraft."