Jeden Tag kommen neue Bilder dazu. Von Zerstörung. Flucht. Erbitterten Kämpfen. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine geht in den 138. Tag. Zwar legen die russischen Streitkräfte nun offenbar eine "operative Pause" ein, doch dürfte das lediglich die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein. Das Sterben nimmt kein Ende.
Dennoch ist dieser Tage eine Bundesrepublik zu beobachten, die unmittelbar andere Sorgen als das Kriegsgeschehen in der Ukraine hat.
Schwimmbäder schreiben Schlagzeilen, die angesichts steigender Energiekosten das Wasser nicht mehr erwärmen oder schließen. Kommunen richten Wärmeräume ein, damit etwa einkommensschwache Menschen daheim nicht frieren müssen. Vermieter drosseln die Heizungsleistung, angeblich zum Schutz der Mieter vor steigenden Kosten.
Gas sparen, Kohlekraftwerke hochfahren, neue Partner suchen: So reagieren Europäer auf die gedrosselten Gaslieferungen aus Russland

Deutschland läuft es im Sommer kalt den Rücken herunter: Was, wenn die russischen Gaslieferungen ausbleiben? Die Frage hat an Dringlichkeit gewonnen, vielerorts wird sich auf den Ernstfall vorbereitet. Seit Montagmorgen fließt wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten kein russisches Erdgas durch die Pipeline Nord Stream 1. Doch ob der wichtige Rohstoff auch planmäßig wieder durch die Röhren schießt, ist ungewiss (mehr dazu lesen Sie hier).
Nun liegen die Gründe dafür seit langem auf der Hand. Russlands Präsident Wladimir Putin zählt das Schüren von Ängsten zu seinem Waffenarsenal, versucht mit dem Wecken von Begehrlichkeiten (ob bei Lebensmitteln oder Energie) und Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) die Entschlossenheit der Länder zu unterminieren, die der Ukraine im Kampf gegen Russland zur Seite stehen, und ihre Prioritäten zu verschieben. Neu ist hingegen: Putins Plan entfaltet erste Wirkung.
Die Hilfe für die Ukraine ist wichtig, aber…
Er hat die Probleme früh kommen sehen: Robert Habeck warnte schon Anfang März, zwölf Tage nach Beginn des russischen Feldzugs, vor erheblichen gesamtwirtschaftlichen Schäden sowie gesellschaftlichen Verwerfungen, sollten die russischen Energielieferungen kurzfristig komplett ausfallen. Man rede nicht über "individuelle Komforteinschränkungen", sagte der Bundeswirtschaftsminister seinerzeit, sondern über gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schäden "schwersten Ausmaßes". Diese könnten das Durchhalten von allen möglichen Sanktionen gefährden.
Nun, vier Monate später, ist der mögliche Gas-Stopp konkret im Sorgenkatalog der Deutschen angekommen. Und hat offenbar ein Umdenken in den Köpfen der Republik zur Folge.

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Welches sind die wichtigsten Themen, die von der Bundesregierung nun angepackt werden müssen? So lautete eine Frage des Meinungsforschungsinstituts Insa im Auftrag der "Bild am Sonntag". Demnach die drängendsten Probleme: die Bekämpfung der Inflation (65 Prozent) und Begrenzung des Anstiegs der Energiepreise (60 Prozent). Die militärische Unterstützung der Ukraine (19 Prozent) rückt in den Hintergrund, auch die Bekämpfung der Corona-Pandemie (33 Prozent) und des Klimawandels (43 Prozent) sind den Befragten laut Umfrage wichtiger.
Der Eindruck: Die Solidarität mit der Ukraine wird von eigenen, finanziellen Sorgen verdrängt. Wie teuer würde ein möglicher Gas-Stopp zu Buche schlagen? Wirklich belastbare Antworten gibt es nicht, aber allerhand Prognosen. Teuer wird es wohl in jedem Fall.
"Auch wenn wir in keine Gasnotlage kommen, bleibt das Gas teuer", sagte etwa Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller zum "Focus". Dabei seien die Folgen der aktuellen Gasknappheit preislich bei den Verbrauchern noch gar nicht angekommen. "Das kann für eine Familie schnell eine Mehrbelastung von 2000 bis 3000 Euro im Jahr bedeuten", so Müller. Da sei "die nächste Urlaubsreise oder die neue Waschmaschine dann oft nicht mehr drin." Deutschland drohe eine "Gasarmut".
Deutlich kernigere Worte wählte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Er mache sich Sorgen, "dass viele Normalverdiener vor dem Abstieg bedroht sind", sagte er am Sonntag im ARD-"Sommerinterview", und die Wirtschaft einen "echten Schlaganfall" bekomme, "von dem wir uns kaum erholen". Und rückte die heimischen Sorgen auch rhetorisch in den Fokus: Die Hilfe für die Menschen in der Ukraine sei wichtig, sagte er, "aber natürlich müssen wir auch in erster Linie für unsere Bevölkerung, für die Menschen in Deutschland Sorge tragen, und wir können nicht zulassen, dass am Ende Deutschland in die Abstiegsspirale kommt und Millionen von Menschen am Ende verarmen."
"Ehrlich gesagt, es weiß keiner"
So weit will es die Bundesregierung nicht kommen lassen. Man werde alles dafür tun, so Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, dass eine weitere Verknappung russischer Gaslieferungen nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. "Wenn wir weniger Energie haben, wenn wir weniger Wärmeversorgung haben, dann werden wir dafür sorgen, dass es gerecht zugehen wird", versicherte sie am Montag. Russland sei unberechenbar, nicht nur im Krieg gegen die Ukraine, sondern auch mit Blick auf die Einhaltung von Regeln, die man zum Beispiel bei Energielieferungen habe, kritisierte sie. "Deswegen werden alle unterschiedlichen Szenarien vorbereitet."
Besondere Aufmerksamkeit wird aktuell einer Gasturbine zuteil, die Gas durch Nord Stream 1 von Russland nach Deutschland pumpen soll. Dass schon im Juni merklich weniger Gas durch die Pipeline floss, wurde von Russland auch mit jener Turbine begründet, die nach ihrer Wartung wegen der verhängten Russland-Sanktionen nicht aus Montreal geliefert werden konnte. Bundeswirtschaftsminister Habeck sprach angesichts der gedrosselten Gaslieferungen unlängst von einer "Turbinenausrede" Russlands, auch Bundeskanzler Olaf Scholz vermutete politische Motive dahinter.
Ob es sich tatsächlich um einen Vorwand handelt, dürfte sich bald zeigen: Nach wochenlangem Drängen der Bundesregierung hat Kanada die Ausfuhr der reparierten Turbine nun genehmigt. Die kanadische Regierung erklärte am Samstag, sie erteile "eine zeitlich begrenzte und widerrufbare Genehmigung", um die Turbine nach Deutschland zu bringen.
Das sorgte zwar für Erleichterung bei der Bundesregierung, jedoch für Unmut in Kiew. Die Ukraine zeigte sich "zutiefst enttäuscht" über die Entscheidung, in diesem Fall eine Ausnahme von den gegen Russland verhängten Sanktionen zu machen, hieß es in einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung. Russland sei auch ohne die Turbine in der Lage, Gas in vollem Umfang zu liefern.
Der Eindruck, offenkundig auch in der Ukraine: Die Solidarität mit dem angegriffenen Land wird von eigenen Sorgen verdrängt.
Jonathan Wilkinson, der kanadische Minister für natürliche Ressourcen, erklärte das Umdenken mit drastischen Worten. "Ohne die notwendige Versorgung mit Erdgas wird die deutsche Wirtschaft sehr große Schwierigkeiten haben", sagte er. Darüber hinaus würden die Deutschen selbst Gefahr laufen, "dass sie ihre Häuser im bevorstehenden Winter nicht heizen können." Zudem warf er Putin vor, über die Energiefrage unter den Verbündeten der Ukraine "Spaltung säen zu wollen".
Putins Spaltungsversuche sind ein ernstzunehmender Faktor, diesen Eindruck teilt auch Bundeswirtschaftsminister Habeck, der abermals dazu aufrief, sich in der Energiekrise unterzuhaken. "Europa lässt sich durch das russische Agieren nicht spalten. Im Gegenteil: Wir arbeiten mit noch mehr Entschlossenheit daran, unsere Abhängigkeit von russischen Energieträgern so schnell wie möglich zu überwinden", sagte er am Montag vor einem Treffen mit dem tschechischen Industrie- und Handelsminister Jozef Sikela in Prag.
Doch die Ungewissheit verfängt in einer zunehmend nervösen Republik – und der Kriegstreiber aus dem Kreml ist offenkundig nicht gewillt, Klarheit zu schaffen. So gibt es laut Bundesnetzagentur-Chef Müller zufolge unterschiedliche Signale aus Moskau zu künftigen Gas-Lieferungen durch die Pipeline.
Auf der einen Seite gebe es Aussagen von Kreml-Sprechern, man könne in Kombination mit der zugesagten Lieferung der Turbine wieder wesentlich mehr Gas liefern, sagte er am Montag im ZDF-"Morgenmagazin". Auf der anderen Seite habe es auch sehr martialische Ansagen gegeben. "Ehrlich gesagt, es weiß keiner", sagte Müller.