100 Tage Ukraine-Krieg Die Sorge vor der Kriegsmüdigkeit wächst. Das spielt Putin in die Hände

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine: "Unsere Aufgabe ist es, dass die Welt des Krieges nicht müde wird und die Ukraine unterstützt"
© -/Ukrainian Presidential Press Office/AP / DPA
Seit 100 Tagen wütet in der Ukraine ein brutaler Krieg, doch die Blicke wenden sich zunehmend anderen Themen zu. Eine gewisse Kriegsmüdigkeit deutet sich an. Das ist für Putin von Vorteil. 

Es ist noch lange nicht vorbei, so will es Wolodymyr Selenskyj verstanden wissen. Seit nunmehr 100 Tagen wütet in seinem Land ein brutaler Krieg, entfesselt von einem russischen Gernegroß, der offenkundig keine Eskalation scheut, um seine Allmachtfantasien in die Realität zu überführen. Und Selenskyj wird nicht müde das immer wieder zu betonen. 

Bei mehreren Auftritten zog der ukrainische Präsident nun eine Art Bilanz des Krieges, der seit dem 24. Februar kein absehbares Ende kennt:

  • Bei den Kämpfen im Osten würden täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet, sagte er in einer Videoschalte bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava.
  • Darüber hinaus würden "ein paar Hundert Menschen – 450, 500 Menschen" jeden Tag verletzt
  • Ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebietes sei derzeit von Russland besetzt, sagte er in einer Schalte in das luxemburgische Parlament. 

Der ukrainische Präsident versucht mit seinen regelmäßigen Reden und tagtäglichen Videobotschaften die Aufmerksamkeit für die Ukraine im Westen hochzuhalten. Es ist ein stetes Aufbäumen gegen das abflauende Interesse am Kriegsgeschehen.

Denn gerade das sei von entscheidender Bedeutung für sein Land, sagte Selenskyj im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos, als er abermals um Unterstützung warb. "Unsere Aufgabe ist es, dass die Welt des Krieges nicht müde wird und die Ukraine unterstützt", so Selenskyj während einer Podiumsdiskussion. Er befürchte, dass die Menschen zunehmend "die Nase voll" vom Krieg hätten, "zynisch" werden und "etwas Neues" wollten.

Seine Sorge: Lässt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nach, schwindet auch der Druck auf die Staats- und Regierungschefs, der Ukraine zu helfen und Russland entschlossen entgegenzutreten.

Vor diesem Hintergrund wählte Olena Selenska, die Ehefrau von Präsident Selenskyj, zuletzt drastische Worte: "Gewöhnt euch nicht an unser Leid", sagte sie in einem Interview mit dem US-Sender ABC News. Insbesondere an die USA richtete sie einen Appell: "An die Menschen in den USA, gewöhnt euch nicht an diesen Krieg. Anderenfalls riskieren wir einen niemals endenden Krieg."

Mehr als 28,5 Milliarden Euro hat die ukrainische Regierung seit dem 24. Januar von Staaten weltweit erhalten, wie der "Ukraine Support Tracker" des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zeigt. Die mit Abstand größten finanziellen Hilfen stammen demnach aus den USA: Seit Ende Januar haben die Vereinigten Staaten Hilfsgüter und Waffen im Wert von 10,31 Milliarden Euro in die Ukraine geschickt. Allein seit Kriegsbeginn beträgt der Wert der militärischen US-Unterstützung mehr als vier Milliarden Euro. Kurzum: Die US-Hilfen sind essenziell im Kampf gegen den russischen Aggressor. Einen Bedeutungsverlust in der öffentlichen Wahrnehmung kann sich die Ukraine nicht leisten.

Eine Kriegsmüdigkeit zeichnet sich ab

Und doch zeichnet sich erste Kriegsmüdigkeit ab. Während das Leid der Ukraine wächst, lässt das Interesse im Westen offenkundig nach. Der Fokus verschiebt sich auf Themen abseits des russischen Feldzugs. Kannte die Titelseite der "New York Times" vom 25. Februar nur ein Thema…

Die Frontseite der "New York Times" vom 25. Februar 2022
Die Frontseite der "New York Times" vom 25. Februar 2022
© Screenshot: New York Times

…bestimmen nun vor allem die innenpolitischen Folgen des Texas-Schulmassakers die Frontpage am 3. Juni.

Die Frontseite der "New York Times" vom 3. Juni 2022
Die Frontseite der "New York Times" vom 3. Juni 2022
© Screenshot: New York Times

Der Krieg befindet sich in einer Phase, die deutlich langsamer verläuft, aber nicht weniger brutal. Die Ereignisse an der Front erscheinen weniger spektakulär als es in den ersten Kriegswochen der Fall war. Das spiegelt sich auch in der Berichterstattung wieder. 

Die Blicke wenden sich anderen Themen zu. Einer Analyse des US-Unternehmens NewsWhip für "Axios" zufolge, hat es einen 22-fachen Rückgang von Social-Media-Interaktionen ("Gefällt mir"-Angaben, Kommentare, Teilen von Beiträgen) bei Nachrichtenartikeln zur Ukraine gegeben, die zwischen der ersten Kriegswoche und der vergangenen Woche veröffentlicht wurden: von 109 Millionen auf 4,8 Millionen.

Auch der Umfang der Online-Medienberichterstattung habe demnach merklich nachgelassen. Wurden in der ersten Woche noch 520.000 Artikel veröffentlicht, waren es zuletzt nur noch 70.000. Allein: Das Interesse an Geschichten über den Verleumdungsprozess um Johnny Depp und Amber Heard sei über einen Zeitraum von sechs Wochen (im April und Mai) sechsmal höher Gewesen als an Berichten über die Ukraine.

Putin würde von Desinteresse am Ukraine-Krieg profitieren

Unlängst hat auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) vor einer Kriegsmüdigkeit in den westlichen Staaten gewarnt. "Wir haben einen Moment der Fatigue erreicht", stellte sie in Kristiansand nach Abschluss des "Ostseerats" fest. Dennoch müssten die Sanktionen gegen Russland und die Hilfen für die Ukraine aufrechterhalten bleiben. Baerbock glaubt, dass die wachsende Skepsis auch damit zusammenhänge, dass der russische Angriffskrieg zu höheren Preisen bei Energie und Nahrungsmitteln führe. Dies sei aber genau die Taktik von Russlands Präsident Putin, so die Außenministerin. Daher sei es so wichtig, an der Unterstützung der Ukraine festzuhalten. 

Denn diese zeichnete sich bisher vor allem dadurch aus, dass sie geschlossen und entschlossen von der westlichen Allianz angeschoben wurde. Allerdings deuten sich bereits erste Risse in der Mauer gegen Moskau an, etwa bei der Ausgestaltung weiterer Sanktionen gegen Russland. Immer häufiger spielen dabei auch nationale Interessen und Sorge vor einer weiteren Eskalation mit Russland eine Rolle.

Demonstrativ testet der russische Präsident die Schmerzgrenze des Westens immer wieder aus, versucht so die Entschlossenheit mit Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) und dem Wecken von Begehrlichkeiten (Lebensmittel und Energie) zu unterminieren und so einen Keil zwischen die Unterstützer der Ukraine zu treiben. Mit anderen Worten: "Russland führt seinen brutalen Krieg nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben. Russland führt diesen Krieg mit einer anderen schrecklichen und leiseren Waffe: Hunger und Entbehrung", wie Bundesaußenministerin Baerbock an anderer Stelle sagte.

Eine Kriegsmüdigkeit, auch in Deutschland, würde Putin also in die Hände spielen. Geradezu paradox: Die wachsende Sorge vor Entbehrungen im eigenen Alltag gewinnt an Bedeutung, während die eigentliche Ursache dafür – der russische Angriffskrieg – zunehmend in den Hintergrund rückt. 

Noch ist der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid zwar skeptisch, was eine drohende Kriegsmüdigkeit der Deutschen angeht. "Solange die Ukraine diesen unbändigen Widerstandswillen zeigt, ist die Gefahr gering", sagte er dem "Spiegel". "Allerdings werden in den nächsten Wochen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges deutlich, das Fortwirken der Coronakrise spürbar und die strukturellen Herausforderungen des Klimaschutzes und der industriellen Transformation unverkennbar werden."

Schon jetzt drängen sich Themen abseits des Kriegsgeschehens in den Fokus der Debatte, es prägen "Das große Tankchaos" ("Bild am Sonntag"), "Der 9-Euro-Crashtest" ("Der Spiegel"), "Deutschlands Schuldenberg" ("Süddeutsche Zeitung") und die steigenden Preise an den Supermarktkassen die Schlagzeilen. 

"Wir werden einen dramatischen Anstieg der Heizkosten erleben"

Der Krieg rückt im Bewusstsein der Menschen in den Hintergrund. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) äußerte am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner" daher die Sorge, dass der Rückhalt für die Politik der Bundesregierung im Herbst und Winter schwinden könnte, wenn sich die Folgekosten des russischen Kriegs bemerkbar machen würden. 

"Wir werden einen dramatischen Anstieg der Heizkosten erleben", prognostizierte Habeck. "Ob da dann die politischen Maßnahmen ausreichen, um gesellschaftlichen Frieden und das Gefühl, dass es fair in diesem Land zugeht, durchzuhalten, das wird die entscheidende Frage des Herbstes und des Winters werden. Da bin ich noch nicht ganz sicher", erklärte er auf die Frage, ob Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland die Puste ausgehen könnte. 

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Habeck wies darauf hin, dass mit zunehmender Kriegsdauer hierzulande ein Gewöhnungseffekt einsetzen könnte. Andere Themen bis hin zur Fußball-Bundesliga könnten die Empörung über die russische Aggression und die Gräueltaten verdrängen.

Selbstredend wird die Ukraine das zu verhindern versuchen. Ihr Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, platzierte daher schon am Freitagmorgen eine wachrüttelnde Botschaft an die Bundesrepublik und kritisierte erneut die Zögerlichkeit Deutschlands bei der Lieferung schwerer Waffen.

Die Ukraine begrüße zwar die jüngste Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu neuen Waffenlieferungen, sagte Melnyk im ZDF-"Morgenmagazin". "Aber wenn wir ehrlich sind: 100 Tage Krieg – bis heute wurde noch kein einziges schweres Gerät in die Ukraine geliefert aus Deutschland".

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