Die mit zehn Prozent höchste Inflationsrate der Eurozone, Existenzängste von Rentnern und Bewohnern benachteiligter Regionen, ein finanziell ausgezehrtes Gesundheitssystem und das Thema Migration – die Liste der Sorgen der Menschen in der Slowakei ist lang. Seit Samstagmorgen können die Slowakinnen und Slowaken bei der vorgezogenen Parlamentswahl ihre Stimme abgeben, die als richtungsweisend für die Demokratie in dem Land und dessen Positionierung zu Russland und der EU gilt.
Umfragen deuteten zuletzt auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der populistischen Partei Smer-SD des Ex-Regierungschefs Robert Fico und der liberalen Partei Fortschrittliche Slowakei von EU-Vizeparlamentspräsident Michal Simecka hin. Beide Parteien wären im Falle eines Wahlsiegs voraussichtlich auf Koalitionspartner angewiesen, um eine Mehrheit im 150 Sitze umfassenden Parlament zu erreichen.
Wird die Slowakei "pro-russisch"?
Externe Beobachter interessiert aber fast ausschließlich eine Frage: Stoppt das EU- und Nato-Land seine Militärhilfe für die von Russland angegriffene Ukraine oder kippt es gar in eine Pro-Moskau Haltung? Die Slowakei hat unter anderem MiG-Kampfjets an Kiew geliefert.
Im Zentrum dieser Sorge steht der ehemalige Langzeit-Regierungschef Fico, der mit seiner Smer-SSD in allen Umfragen führt und der von seinen Gegnern als "pro-russisch" abgestempelt wird. Der Ex-Regierungschef hat angekündigt, die Militärhilfe für die Ukraine einstellen zu wollen.
Vizeparteichef Lubos Blaha wies den Vorwurf, "pro-russisch" zu sein, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur von sich: "Das ist doch Nonsens, dass wir pro-russisch oder pro Putin sein sollen." Auch eine von seiner Partei geführte Regierung werde der Ukraine weiter helfen, aber eben nicht mit Waffen, sondern nur mit zivilen Gütern.
"Progresivne Slovensko" hat gute Chancen
Seit 2020 war in dem Land eine konservativ-populistisch-liberale Vierparteien-Koalition unter dem damaligen Wahlsieger Igor Matovic und seinem Nachfolger Eduard Heger an der Macht. Diese hat sich für viele Bürgerinnen und Bürger durch internen Dauerstreit selbst diskreditiert und das Land während der Corona-Pandemie in ein Chaos gestürzt, das auch Präsidentin Zuzana Caputova kritisierte. Sie ersetzte im Mai die Rest-Koalition durch ein Beamtenkabinett unter Ludovit Odor. Die inzwischen durch Abspaltungen zersplitterten Koalitionsparteien befürchten nun ausnahmslos alle, mit der anstehenden Wahl aus dem Parlament zu fliegen.
Wähler, die ein Fico-Comeback verhindern wollen, ziehen eigenen Angaben zufolge nun die bisher nicht einmal im Parlament vertretene liberale Partei "Progresivne Slovensko" (Fortschrittliche Slowakei – PS) als Alternative in Erwägung. Sie gilt als unbefleckt von Skandalen und wirbt mit dem Slogan: "Genug der Vergangenheit! Wählen wir die Zukunft!"
Kriegskosten: 250 Milliarden Euro, Flüchtlinge: 23 Millionen, tote Zivilsten: 9000

Zuletzt gelang es der PS, den anderen bürgerlichen Parteien immer mehr potenzielle Wähler abzugraben. Damit könnte ein Triumph der PS bei der Wahl allerdings zum Pyrrhus-Sieg werden – denn sollten die anderen Parteien an der Fünfprozenthürde scheitern, hätte die PS keinen mehr, mit dem sie koalieren könnte. Dann wäre erst recht Fico der Gewinner.
Mafia-Vorwürfe in Richtung Robert Ficos
Der immer nationalistischer auftretende Smer-Chef Fico, der mit kurzer Unterbrechung von 2006 bis 2018 die Regierung führte, schien zuletzt politisch abgeschrieben. Nach dem Mord am Investigativ-Journalisten Jan Kuciak im Februar 2018 entstand sogar der Verdacht, Ficos Regierung könnte hinter der Tat stehen. Kuciak hatte zu Verbindungen zwischen der italienischen Mafia und Ficos Regierungspartei recherchiert.
Das hat sich zwar als falsch erwiesen, aber das Schimpfwort "Mafia" haben die 2020 siegreichen Gegner ihm dauerhaft angeheftet. Im Zuge der Ermittlungen flogen nämlich Korruptionsnetzwerke auf, in die Richter, Staatsanwälte und von der Smer-Regierung ernannte Spitzenfunktionäre von Polizei und Staatsverwaltung verwickelt waren. Fico ist heute aber wegen der Unbeliebtheit seiner Nachfolger wieder im Aufwind.
Der unabhängige politische Analyst Grigorij Meseznikov sagte der Nachrichtenagentur AFP, die Wahl werde über die Schwerpunkte des Landes "in der Außenpolitik, in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik", aber auch "die Zukunft der Demokratie" entscheiden.

Fico, "pro-russisch"?
Was einen möglichen pro-russischen Kurs Ficos im Falle eines Wahlsiegs betrifft, schwächen unabhängige Politologen wie Radoslav Stefancik von der Wirtschaftsuniversität Bratislava derartige Ansichten ab: "Fico wird Koalitionspartner brauchen. Und die werden ihm nicht in allem zustimmen." Tatsächlich wollen außer Fico nur zwei kleine Rechtsaußen-Parteien keine Waffen mehr an die Ukraine liefern.
Smer als "pro-russisch" einzuordnen, hält auch Igor Danis für falsch. Der Kommentator der auflagenstärksten slowakischen Zeitung "Pravda" erinnerte daran, dass sich Fico während seiner Regierungszeit stets als entschiedener Befürworter Europas gezeigt habe. Er gebe zwar gewisse anti-amerikanische Töne von sich, unterstütze aber die Linie des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, eine von den USA emanzipierte Europäische Sicherheitsunion zu schaffen.
Fico selbst grenzt sich auch gegen die Rechtsextremisten ab: Wer die Nato-Mitgliedschaft der Slowakei infrage stelle, komme nicht als Koalitionspartner in Betracht. Auch will er der Ukraine weiter gegen Russland helfen, nur eben nicht mit Waffen. Sonst drohe die Slowakei zum russischen Angriffsziel zu werden, argumentiert er. Damit sieht er sich selbst nicht als "pro-russisch", sondern "pro-slowakisch", wie er stets betont.
Viele Falschinformationen bei der Wahl
Die Slowakei ist während des Wahlkampfs von einer Flut von Falschinformationen überschwemmt worden. Experten zufolge fällt etwa die Hälfte der 5,4 Millionen Einwohner auf Falschinformationen herein. Das Land ist seit Jahren Ziel entsprechender Kampagnen, doch hat "das Desinformations-Ökosystem" vor der Wahl in diesem Jahr seinen "Zenit erreicht", sagt Peter Duboczi von der Website Infosecurity.sk.
Experten zufolge sind vor allem drei Parteien für die Verbreitung anti-ukrainischer und pro-russischer Falschinformationen verantwortlich: die Smer-SD, die nationalistische Republika und die Slowakische Nationalpartei (SNS). Dazu gehört beispielsweise die unbewiesene Behauptung, der Krieg in der Ukraine habe bereits 2014 mit der Tötung russischer Zivilisten durch ukrainische "Faschisten" begonnen – eine oft von Moskau verbreitete These, die sich Fico während des Wahlkampfs zu eigen machte.
Wie die pro-westlichen Parteien hat auch die Smer den russischen Angriff auf die Ukraine von Anfang an verurteilt. Damit unterscheidet sie sich von der kleinen, offen pro-russischen Slowakischen Nationalpartei SNS und der rechtsextremen Republika, die gar einen Austritt aus der Nato fordert.
Insgesamt treten 25 Parteien an. Nach Meinungsumfragen haben neun von ihnen realistische Chancen, ins Parlament in Bratislava einzuziehen. Die Wahllokale sind von 7.00 bis 22.00 Uhr geöffnet, im Fall technischer Probleme ist eine Verlängerung möglich. Teilergebnisse der Stimmenauszählung sollen im Laufe der Nacht auf Sonntag bekannt gegeben werden. Mit dem Endergebnis wird am Sonntagvormittag gerechnet.