Am Schreibtisch vor dem Computerbildschirm sitzen, von neun bis 17 Uhr, dünnen Kaffee trinken und belanglosen Small Talk mit den Kollegen führen. Bürojobs können ziemlich öde sein.
Das finden offenbar auch die Taliban: Seit die radikal-islamische Terrororganisation im August 2021 in Afghanistan die Macht übernommen hat, sitzen sie in Verwaltung und Regierung – und arbeiten nun auch an Schreibtischen vor Computern, was einige im Vergleich zu ihren alten Tätigkeiten für eintönig halten.
Für das Afghanistan Analysts Network (AAN), eine unabhängige und gemeinnützige Organisation für politische Forschung, sprach der Afghanistan-Analyst Sabawoon Samim mit fünf Taliban und fragte sie, wie sie das neue Leben in Kabul finden. Die Ergebnisse der Interviews – die im Oktober und November 2022 geführt wurden – veröffentlichte das AAN in einem längeren Artikel am 2. Februar.
Taliban waren zum Teil noch nie vorher in Kabul
Die fünf befragten Taliban waren zwischen 24 und 32 Jahre alt und hatten zwischen sechs und elf Jahre in der Taliban-Bewegung verbracht. Mit der Machtergreifung erhielten sie Jobs in der neuen Regierung, etwa in Ministerien.
Samim sprach mit ihnen darüber, wie sie Kabul und seine Bewohner kennengelernt haben, was sie von ihren neuen Jobs und dem lauten Verkehr in der Hauptstadt halten. Denn viele der Taliban-Kämpfer stammen aus einfachen Dörfern, wo sie bescheidene Leben führten. Leben, die nur den Krieg kannten.
Ein 32-jähriger Taliban berichtete etwa: "Ich war vorher noch nie in Kabul. Aus dem Radio und von Leuten, die dorthin gereist sind, haben wir gehört, dass die Stadt von den Amerikanern und (Hamid) Karzai sehr schön gebaut wurde. Aber trotzdem ist es nicht so schön, wie es hätte sein sollen." Ihm gefalle dennoch das "modernisierte" Kabul: Elektrizität, neue Gebäude, Krankenhäuser, Schulen, Internet.
Beschwerden über Verkehr und Arbeitszeiten
Was ihn aber besonders störe, sei der Verkehr. "Letztes Jahr war er noch erträglich, aber in den letzten Monaten hat er sich immer mehr verstopft. Die Leute beschweren sich, dass die Taliban die Armut gebracht haben, aber wenn ich mir den Verkehr und die vielen Menschen auf den Basaren und in den Restaurants ansehe, frage ich mich, wo diese Armut ist."
Was ihm auch nicht gefalle: die Einschränkungen nach der Machtergreifung. In seiner Taliban-Gruppe habe es ein hohes Maß an Freiheit gegeben. "Heutzutage muss man jedoch vor acht Uhr morgens ins Büro gehen und dort bis 16 Uhr bleiben. Wenn man nicht hingeht, gilt man als abwesend, und (der Lohn für) diesen Tag wird einem vom Gehalt abgezogen. Daran haben wir uns inzwischen gewöhnt, aber in den ersten zwei oder drei Monaten war es besonders schwierig."
Durch die Arbeitszeiten habe er auch wenig Zeit, sich mit anderen Taliban zu treffen – denn die müssten schließlich auch arbeiten.
Ähnlich sehe es auch ein 24 Jahre alter Taliban, der als Scharfschütze bei der Terrororganisation diente und in Kabul einen Job bei der Polizei bekommen habe.
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"Ich vermisse oft die Zeit des Dschihad"
Auch er beklagte sich über die Beschränkungen, die das neue Arbeitsleben in Kabul mit sich bringen. "Früher waren die Taliban frei von Einschränkungen, aber jetzt sitzen wir an einem Ort, hinter einem Schreibtisch und einem Computer, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Das Leben ist so zermürbend geworden; man tut jeden Tag dasselbe."
Die Zeiten des Dschihad seien einfacher gewesen. "Alles, womit wir zu tun hatten, war, Pläne für Ta'aruz (Angriffe) gegen den Feind und für den Rückzug zu schmieden. Die Menschen erwarteten nicht viel von uns, und wir trugen wenig Verantwortung für sie, während wir jetzt, wenn jemand hungrig ist, direkt dafür verantwortlich gemacht werden."

Ein 27-jähriger Taliban, der nun im Innenministerium arbeite, sagte hinsichtlich der alten Zeiten der Taliban, bevor sie die Macht übernahmen: "Ich bin einigermaßen zufrieden mit meinem Job, aber ich vermisse oft die Zeit des Dschihad. In dieser Zeit wurde jede Minute unseres Lebens als Dienst für Gott gezählt."
Taliban sehnen sich nach alten Zeiten
Er kritisierte auch, dass Menschen "voll und ganz" damit beschäftigt seien, Ruhm zu erlangen und Reichtum anzuhäufen. "Früher taten wir alles um Allahs willen, aber heute ist das Gegenteil der Fall." Viele Taliban hätten ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. "Viele von uns haben sich jetzt in ihre Büros und Paläste zurückgezogen und dieses einfache Leben aufgegeben."
Dass sich der Zusammenhalt der Taliban mit der Machtübernahme 2021 geändert habe, sehe auch ein 25-jähriger Anhänger der Gruppe so. "Während des Dschihad hätte man den Unterschied zwischen einem Kommandeur und einem Fußsoldaten wie mir nicht erkennen können. Wir saßen zusammen, wir unterhielten uns in aller Ruhe, und sie waren uns gegenüber sehr wohlwollend. Unsere Vorgesetzten kämpften Seite an Seite mit uns, und wir weinten alle gemeinsam um unsere Märtyrer."
Inzwischen hätten sich viele Anführer der Taliban aber von "ihren Kameraden" abgewandt. "Manchmal vermisse ich das Leben im Dschihad mit all seinen guten Seiten."
Taliban seien "süchtig nach dem Internet, insbesondere nach Twitter"
Der 25-Jährige arbeite in einem Ministerium. Über sich und seine Taliban-Kollegen sagte er: "Wir sind sehr klug und intelligent, und wir lernen schnell." Er selbst behauptete von sich, dass er seine Arbeit besser mache als viele seiner Kollegen. Dennoch habe er wenig zu tun, weshalb er viel Zeit bei Twitter verbringe. "Wir sind mit schnellem Wi-Fi und Internet verbunden. Viele Mudschaheddin, mich eingeschlossen, sind süchtig nach dem Internet, insbesondere nach Twitter."
Für den Forscher und Analysten Sabawoon Samim sagen die Aussagen der Taliban vor allem aus, dass die radikal-islamischen Kämpfer durch ihren Sieg über die afghanische Regierung viele persönliche Probleme bekommen haben.
"Im Großen und Ganzen zogen alle unsere Gesprächspartner ihre Zeit als Kämpfer dem, was sie als Dschihad betrachteten, vor. Damals war ihr Leben einfach. Sie hatten nur wenig Verantwortung oder Komplikationen. Alles, womit sie konfrontiert wurden, war mit dem Krieg und dem Schlachtfeld verbunden."
Die Taliban müssen nun Geld für ihre Familien verdienen
Die Eingliederung in die formale Ordnung der staatlichen Verwaltung habe sich für die befragten Taliban zu einem großen Problem entwickelt. Die alten Strukturen, mit denen sie vertraut und zufrieden waren, seien mit der Übernahme verschwunden; die Dynamik ihres Lebens habe sich vollständig geändert.
Viele der wahrgenommenen Freiheiten seien für sie weggefallen. Jetzt müssten sie sich an offizielle Regeln und Gesetze halten, die ihnen vorher unbekannt waren. Die Taliban müssten nun Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen. Auch das sei für sie neu.
"Der Dschihad, eine religiöse Pflicht, die sie von solchen Alltagssorgen befreite, ist vorbei: Sie müssen nun wie alle anderen für das Überleben ihrer Familien arbeiten."