Seit Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet hat, ist der Westen moralisch in der Bedrouille. Das können auch die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen kaum aufwiegen. Angesichts des Leids der Zivilbevölkerung müssen sich die Nato und die EU immer wieder der Frage stellen, ob die Maßnahmen ausreichen. Militärische Interventionen werden weiterhin strikt abgelehnt, viel zu groß ist die Angst vor einem drohenden dritten Weltkrieg. Dafür haben sich die europäischen Mitgliedstaaten auf Waffenlieferungen für die Ukraine geeinigt. Vor allem Deutschland rang zunächst mit sich, zog dann aber mit.
Von ihren ursprünglichen Standpunkten abgewichen sind auch die Schweiz, Finnland und Schweden. Während sich erstere, wenn auch sehr zögerlich, dazu entschlossen, Neutralität Neutralität sein zu lassen und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und seine Elite mitzutragen, erwägen die Skandinavier nun doch dem nordatlantischen Militärbündnis beizutreten. Auch wenn es nicht zu militärischen Eingriffen kommt, ist klar: Der Westen steht an der Seite der Ukraine – zumindest ein Teil davon.
Weniger eindeutig positioniert sich derweil Österreich. Öffentlich versammeln sich zwar Bürger, um mit blau-gelben Fahnen gegen den Ukraine-Krieg zu demonstrieren. Und auch Geflüchtete nimmt das Land, anders als nach der letzten Welle 2015/16, nun bereitwillig auf. Medienberichten zufolge wurden bisher 27.000 Menschen aus der Ukraine registriert. Doch politisch gibt sich die Alpenrepublik zurückhaltend.
Die "aufgezwungene" Neutralität
"Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben", betonte Bundeskanzler Karl Nehammer bereits Anfang März – möglicherweise in der Hoffnung, die Debatte um eine Einmischung noch im Kern zu ersticken. Für einen Eklat sorgte dann jedoch ein Streit zwischen den liberalen Neos, der rechtsgerichteten FPÖ und den Sozialdemokraten. Die Liberalen wollten Selenskyj vor dem Parlament sprechen lassen. Die anderen beiden Parteien lehnten das prompt ab. Man wolle die Neutralität wahren. Putin würde man derzeit auch nicht vorladen, ebenso wenig jede weitere Kriegspartei, hieß es aus den Reihen der FPÖ.
Jetzt rudern die Parteien zurück. Chatprotokolle, die dem Blatt "Der Standard" vorliegen, sollen belegen, dass sich beide Parteien nicht grundsätzlich gegen eine Rede des ukrainischen Präsidenten ausgesprochen hätten. Stattdessen hätte man angesichts der heiklen Lage zur Achtsamkeit gemahnt. Besonders die SPÖ scheut sich davor, ins Eck der "Putin-Versteher" gedrängt zu werden. Trotzdem bleibt auch die Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner dabei: Die österreichische Neutralität ist "nicht verhandelbar".
Das hat auch historische Gründe. Unter der Bedingung auf Bündnisse und Stützpunkte zu verzichten, unterzeichnete eine österreichische Delegation 1955 das Moskauer Memorandum. Während sich das Land darin verpflichtete, international "immerwährend eine Neutralität derart zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“, versprach die Sowjetunion den Staatsvertrag zu unterschreiben. Sein Versprechen hat Österreich am 26. Oktober 1955 in einem Gesetz festgeschrieben. Um die Neutralität aufzuheben, bedarf es heute einer Verfassungsänderung – die mehrheitlich vom Parlament unterstützt werden muss.
Fotochronik des Ukraine-Krieges: Eine Unterschrift. Was folgt, sind Tod und Leid

Die militärische Neutralität sei dem Land nach dem Zweiten Weltkrieg "aufgezwungen" worden – "als Preis dafür, dass wir die Freiheit wiederbekommen", sagt Bundeskanzler Nehammer heute. Inzwischen gehöre die Neutralität zur "österreichischen Identität". Und: Man sei bereit, diese und die Verfassung zu verteidigen.
Putin-Versteher oder eher -Sympathisanten?
Soweit so gut. Wären da nicht der EU-Beitritt und der Fall der Ukraine. Seit 1995 ist Österreich Mitglied der Union. Damit hat sich das Land dazu verpflichtet, an der Sicherheits- und Außenpolitik mitzuwirken. Rechtlich gesehen ist diese Allianz heikel, weil Österreich, wie alle anderen EU-Staaten auch, Mittel bereitstellt, mit denen die EU die Waffenlieferungen an die Ukraine finanziert. Im Gespräch mit dem Blatt "Die Presse" hat der Europarechtler Walter Oberwexer das Geld als unsichtbares "Mascherl" beschrieben, weil es nicht direkt für die Waffenfinanzierung verwendet wird. Letztendlich macht das aber keinen Unterschied, weil die Mittel zur Unterstützung der Ukraine bereitgestellt werden.
Die Österreicher als "Putin-Versteher" zu bezeichnen, ginge angesichts dessen wohl doch etwas zu weit. Unbestritten ist indes, dass beide Seiten gewisse Sympathien füreinander hegen. Putin zumindest ist den Österreichern näher als den Amerikanern. "Es ist schwierig mit Leuten im Gespräch zu bleiben, die Austria mit Australia verwechseln", ließ der Kreml-Chef 2017 verlauten. Vor allem persönliche Kontakte ziehen den russischen Staatschef immer wieder in die Alpenrepublik. Zu seinen Freunden zählen unter anderem die österreichische Skilegende Karl Schranz, der Manager des Autokonzerns Magna, Siegfried Wolf, sowie die Diplomatin und ehemalige Russland-Sonderbeauftragte des Außenministeriums, Margot Klestil-Löffler.
Aber auch aus den politischen Reihen gibt es Rückhalt – zuletzt 2014. Damals hatten sich österreichische Politiker mehrfach dafür ausgesprochen, die von der EU verhängten Sanktionen nach der russischen Annexion der Krim zu lockern. Als der russisch-britische Doppelagent Sergej Skripal vergiftet wurde, hielt sich Österreich zurück und verzichtete darauf, russische Diplomaten auszuweisen. Stattdessen lud die damalige Außenministerin Karin Kneissel Präsident Putin fünf Monate später zu ihrer Hochzeit ein.

Und nach der Abstimmung über die Waffenlieferungen an die Ukraine ließ Österreich schließlich wissen, dass man sich "konstruktiv enthalten" habe. Zuletzt wurden Gerüchte laut, wonach Österreich den Putin-Vertrauten Oleg Deripaska von der Sanktionsliste gestrichen haben soll. Grund hierfür seien Geschäfte mit dem Oligarchen, heißt es in Medienberichten von "Zeit" und ARD. Die österreichische Regierung hat die Vorwürfe jedoch zurückgewiesen.Laut einem Bericht im "Der Standard" soll sich Siegfried Wolf, ein enger Freund von Deripaska, jedoch erst kürzlich an Ex-Kanzler Sebastian Kurz gewandt haben.Wolf bat Kurz darum sich dafür einzusetzen, dass die Unternehmen des Oligarchen von der US-Sanktionsliste gestrichen werden.
Österreich hängt am russischen Gas
Unabhängig davon liegt der wunde Punkt der russisch-österreichischen Beziehungen aber woanders – nämlich in der Wirtschaft. Zahlreiche große Unternehmen, etwa der Öl- und Gasriese OMV, das Öltechnologieunternehmen Catoil, der Baukonzern Strabag und diverse Banken wie Raiffeisen oder Bank Austria pflegen enge Kontakte nach Russland. Als problematisch dürfte sich in diesen Tagen insbesondere die Abhängigkeit von russischem Gas erweisen, das 80 Prozent des Gesamthaushalts ausmacht. Die Angst vor explodierenden Preisen und stillgelegten Produktionen ist entsprechend groß.
Dass Russland und Österreich auch wirtschaftlich so eng zusammenhängen, hat ebenfalls seinen Ursprung in der Nachkriegszeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel der Osten des Landes unter sowjetische Besatzung. Die Ölfelder im Wiener Becken waren demnach im Besitz der Sowjets, wurden bis zum Staatsvertrag von Moskau kontrolliert und danach an Österreich übergeben. 1968 schloss die Alpenrepublik als erstes westeuropäisches Land einen Gasliefervertrag mit der damaligen UdSSR ab. Die Lieferverträge zwischen der ÖMV (heute OMV) und Gazprom wurden seitdem immer wieder verlängert – zuletzt 2018 bis 2040. Zudem beteiligte sich der österreichische Konzern an der Finanzierung der Gaspipeline Nordstream 2.
Dass sich Österreich in naher Zukunft von den russischen Beziehungen löst, scheint angesichts der historischen Entwicklungen, auf denen die Regierung bis heute beharrt, sowie den engen wirtschaftlichen Verflechtungen unwahrscheinlich. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich das Land künftig weiterhin mit einer Frage beschäftigen muss: Wie neutral kann man in Kriegszeiten wie diesen sein?
Quellen: "Der Standard", "Die Presse", "Der Kurier", Parlament Republik Österreich