Ukraine Kutschma befürwortet Neuwahlen

In der Ukraine mehren sich die Stimmen für eine Wiederholung der umstrittenen Präsidentenwahl - jetzt sprach sich auch der scheidende Staatschef Leonid Kutschma für Neuwahlen aus. Der Antrieb: Die Sorge um den Zerfall der Ukraine.

Im Streit um das Präsidentenamt in der Ukraine will auch der offizielle Sieger, Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, Neuwahlen unter Umständen zustimmen. Das Tauziehen um das Ergebnis der Wahl wird jetzt vor dem obersten Gerichtshof des Landes ausgetragen. Neuwahlen könnten der einzige Weg sein, um die gegenwärtige Krise zu überwinden, sagte Kutschma laut einem Bericht der russischen Nachrichtenagentur Interfax. "Wenn wir wirklich Frieden und Eintracht erhalten wollen, wenn wir wirklich einen demokratischen Staat aufbauen, dann lasst uns Neuwahlen abhalten", wurde er zitiert. Die Ukraine brauche einen "rechtmäßigen Präsidenten".

Wahlwiederholung nur in Präsidenten-Hochburg

Janukowitsch erklärte sich ebenfalls zu einer Wiederholung der Stichwahl bereit, falls der Vorwurf des Wahlbetrugs bewiesen werde. "Wenn es Beweise für Betrug oder illegale Vorgänge gibt und wenn kein Zweifel unter Experten besteht, werde ich einer solchen Entscheidung zustimmen", sagte Janukowitsch mit Verweis auf Neuwahlen in den beiden östlichen Regionen, in denen er die Wahl für sich entschieden haben dürfte. "Ich werde mich an die Menschen in Donetsk und Luhansk wenden und sie bitten, in die Wahllokale zu gehen und nochmal zu wählen."

Angesichts der anhaltenden Proteste hat Kutschma außerdem vor den wirtschaftlichen Folgen gewarnt. "Nur noch ein paar Tage und das Finanzsystem könnte einstürzen wie ein Kartenhaus, und weder der Präsident noch die Regierung können dafür verantwortlich gemacht werden", sagte Kutschma. Finanzminister Mykola Asarow erklärte hingegen, das ukrainische Finanzsystem sei stark genug, um destabilisierenden Faktoren standzuhalten.

Rückendeckung erhielt die Opposition außerdem von Janukowitschs Wahlkampfmanager: Serhij Tyhypko, der Präsident der ukrainischen Zentralbank, sprach sich Medienberichten zufolge für eine Wiederholung der Wahl in zumindest einigen Bezirken aus. "Wir brauchen eine Neuwahl und wir brauchen sie bald", zitierte ihn die Nachrichtenagentur Unian. Außerdem soll er die Massendemonstrationen der Opposition begrüßt haben. Tyhypko trat am Montag als Zentralbankchef und Wahlkampfmanager zurück. Er begründete dies laut seinem Sprecher damit, dass er sich künftig vollzeitlich politisch engagieren wolle.

Keine Streitkräfte gegen Demonstranten

Der Oberste Gerichtshof kann nicht über das Gesamtresultat der Wahl urteilen, jedoch einzelne Ergebnisse für ungültig erklären. Die Opposition hat deshalb nach eigenen Angaben die Ergebnisse in acht Stimmbezirken angefochten, wo Janukowitsch seine Hochburgen hat. Dabei geht es um mehr als 15 Millionen Stimmen. Der Wahlkommission zufolge hat Janukowitsch landesweit mit einem Vorsprung von 871.402 Stimmen gewonnen. Ein Sprecher Janukowitschs warnte, dass ein Richterspruch jenseits des Gesetzes einen Bürgerkrieg auslösen könnte. Beobachter rechneten in jedem Fall mit einer Vertiefung der Kluft zwischen den politischen Fronten. Das Verteidigungsministerium bekräftigte indes, dass die Streitkräfte nicht gegen die Demonstranten vorgehen würden.

Das Oberste Gericht gibt Janukowitsch und der Wahlkommission bis Dienstagmorgen Zeit, Dokumente in dem Verfahren zu prüfen, so dass am Montag kein Richterspruch mehr erwartet wird. Mit der Prüfung der Betrugsvorwürfe sind rund 21 Richter befasst, deren Namen erst in letzter Minute veröffentlicht wurden, um eine Einflussnahme auf sie zu verhindern. Die Prüfung des Falls könne bis zu mehreren Tagen dauern, teilte das Gericht mit.

Sorge vor möglichem Zerfall der Ukraine

Juschtschenkos Mitstreiterin Julija Timoschenko forderte Kutschma am Sonntagabend ultimativ auf, Janukowitsch bis zum Montagabend zu entlassen. Kutschma wiederum betonte, er werde eine Spaltung der Ukraine niemals zulassen. Zuvor hatte die ostukrainische Region Donezk für kommenden Sonntag eine Volksabstimmung über eine Autonomieregelung beschlossen. Bei der Stichwahl am 21. November hatte Janukowitsch im Osten des Landes die meisten Stimmen erhalten, die Bevölkerung der Westukraine sprach sich mehrheitlich für Juschtschenko aus.

Auch ausländische Politiker äußerten sich besorgt über einen möglichen Zerfall der Ukraine. Die Europäische Union, der Europarat und die NATO appellierten an beide Seiten, die territoriale Integrität zu erhalten. Die Bundesregierung in Berlin mahnte erneut eine friedliche und verfassungsgemäße Lösung an. Auch US-Außenminister Colin Powell warnte in einem Telefonat mit Kutschma vor einer Teilung der Ukraine.

Reuters
Pavel Polityuk/Reuters