Gipfel in Vilnius Die Ukraine sollte kein Nato-Mitglied werden – auch nicht nach dem Krieg

Gerangel um den Bündnisbeitritt: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im April in Kiew. Der eine fragt nach dem Wann, der andere nach dem Ob
Gerangel um den Bündnisbeitritt: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im April in Kiew. Der eine fragt nach dem Wann, der andere nach dem Ob
© Efrem Lukatsky / AP / DPA
Selenskyj ist sich sicher: Sein Land hat den Nato-Beitritt verdient. Recht hat er. Nur ist die Nato keine Blutsbruderschaft, sondern eine Bruderschaft bis aufs Blut. Für die Ukraine ist es gleichzeitig zu früh und zu spät, um Teil der Tafelrunde zu werden.

Dass die Ukraine irgendwann einmal Teil des Bündnis werden würde, zu diesem Versprechen hatte sich die Nato bereits 2008 in Bukarest hinreißen lassen. Nicht alle Mitglieder waren damals über den Vorstoß des damaligen US-Präsidenten George W. Bush glücklich. Immerhin blieb die Geste vage: Einen konkreten "Membership Action Plan" gab es nicht. Kiew machte das trotzdem Hoffnung. Moskau machte das nervös.

Heute, 15 Jahre später, auf dem Gipfeltreffen in Vilnius, erinnern die Ukrainer an dieses Versprechen. Nur ist die Welt inzwischen eine andere. Solange der Krieg tobt, ist es zu früh für einen Beitritt. Danach ist es zu spät.

Während des Krieges wäre es für einen Nato-Beitritt zu früh…

Sein Land "verdiene es, Teil des Bündnisses zu sein", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Abend vor dem Gipfeltreffen in Vilnius. Stimmt! Nur ist die Nato-Mitgliedschaft keine Tapferkeitsmedaille. Zumal es Alternativen gibt. Am Montag schlug US-Präsident Joe Biden vor, der Ukraine Sicherheitsgarantien zu bieten, wie die USA es schon für Israel tun. Ein solches Abkommen gölte auch für die Zeit nach dem Krieg. In seinem Diplomatensprech verkaufte Biden die Idee zwar als "Zwischenlösung". Allerdings eignet sie sich sehr wohl als dauerhaftes Provisorium – eine Art Nato-Light-Mitgliedschaft.

Apropos nach dem Krieg. Er wird kommen, der Tag, an dem sich Ukrainer und Russen an den Verhandlungstisch setzen. Mit welchen Karten die Akteure dann auch Platz nehmen: Mit der Aussicht auf Neutralität hielte die Ukraine ein Ass in Händen. Warum es also vorher hergeben? 

Aber dieser Teil der Debatte ist ohnehin eine Scheindiskussion. Solange der Krieg dauert, darf die Ukraine nicht Teil der Nato werden. Wer das nicht versteht, versuche eine Versicherung abzuschließen, nachdem ihm jemand absichtlich ins Auto gebrettert ist. Dass aus dem Beitritt nichts wird, solange geschossen wird, das wissen natürlich auch die Ukrainer. Aber ein "klares Signal", dass man aufgenommen werde, sobald sich der Staub gelegt hat, das müsse schon drin sein, sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videoansprache. Das ist aus seiner und aus der Perspektive Tausender Menschen, die Freunde und Angehörige verloren haben, vollkommen verständlich. Jede Nation hat ein Recht auf Sicherheit, auch die Ukraine. Nur darf die Sicherheit des einen Landes nicht die Sicherheit anderer gefährden. 

… und nach dem Krieg zu spät

Biden stellte kurz nach Kriegsbeginn "kristallklar", dass die USA jeden Zoll Nato-Boden verteidigen würden. Das entscheidende Aber: US-Streitkräfte "sind nicht in einen Konflikt mit Russland in der Ukraine verwickelt und werden es auch nicht sein" – wäre doch das Resultat nichts anderes als ein Dritter Weltkrieg. Was sich daran nach Kriegsende ändert? Absolut gar nichts. Russlands rote Linie hat sich zwar als weitaus flexibler erwiesen, als es das scholzsche Zögern in Sachen Waffenlieferung vermuten ließ. Doch sie ist noch da, wird es immer sein.

Artikel 5 des Nato-Vertrages besagt sinngemäß: Ein Angriff auf einen Bündnispartner, ist ein Angriff auf alle Bündnispartner. Nun hat die Allianz deutlich gezeigt, dass sie nicht bereit ist, aktiv in einen Krieg gegen Russland einzutreten. Nur müssten die Partner genau das tun, sollte Russland die Ukraine eines Tages erneut überfallen. Es stimmt: Artikel 5 verpflichtet im Bündnisfall nicht zwangsläufig zur aktiven Gefechtsteilnahme. Doch eine Drohung ist nur so lange nützlich, wie sie ernst genommen wird. Die Nato ist eine Allianz der Abschreckung und muss als solche schon im Konjunktiv funktionieren.

So unwahrscheinlich eine erneute Invasion auch wäre, müssten die Partner doch damit rechnen. Das taten schon Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten 1948, als sie den Brüsseler Pakt beschlossen – so etwas wie den Nato-Vorgänger. Sie fürchteten sich vorträglich, dass Deutschland den Kontinent irgendwann erneut mit Krieg überziehen würde. Auch das galt schon damals als unwahrscheinlich – aber nicht unmöglich. Sowieso: Begriffe wie "unmöglich" haben in der Weltpolitik nichts verloren.

So drängt sich ein bitterer Gedanke auf: Der geeignete Zeitpunkt, die Ukraine endgültig in den Westen zu hieven, ist vorüber. Sofern es ihn je gab. Im Krieg ist es zu früh, im Frieden zu spät. 

Ukraine-Lage keine Entweder-Oder-Situation

Nun gibt es ein valides Argument, für eine Politik der offenen Arme: Weder Putin, noch Peking, und vor allem nicht die Angst sollten diktieren, wen man in die Familie aufnimmt.

In der Allianz wird man sich jedoch die Frage stellen: Was ist für uns drin außer zusätzliche Risiken? Schließlich wird die Ukraine auch als Nicht-Mitglied weiterhin Pufferzone sein. Außerdem: Der Ukraine den Nato-Beitritt zu verwehren heißt nicht, sie im Stich zu lassen. Doch gegenüber den unwahrscheinlichen, nicht unmöglichen Konsequenzen einer solchen Eheschließung blind zu sein, würde nicht von Anstand, sondern in erster Linie Naivität zeugen.

Falsche Entscheidungen dürfen nicht aus den richtigen Gründen getroffen werden. Juri Sak, ein Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums, forderte, dass Selenskyj und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Ende des Gipfeltreffens nebeneinander stehen müssten. Unbedingt. Aber als beste Freunde, nicht als Verlobte.

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