Lange Zeit hatten politische Beobachter in den USA wenig Zweifel daran, dass die Republikaner bei den Zwischenwahlen im Herbst den Kongress zurückerobern würden. Die Zustimmungswerte von Präsident Joe Biden waren im Keller, die von den Demokraten großangekündigten Gesetzesvorhaben scheiterten eines nach dem anderen im Senat und die Inflation würde ihr übriges tun, um die Wählerinnen und Wähler geradewegs in die Arme der "Grand Old Party" (GOP) zu treiben.
Doch dann kam der 24. Juni – und mit ihm eine historische Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die die Stimmung im Land gehörig aufwirbeln sollte. "Roe v. Wade" – das Urteil, das knapp 50 Jahre lang das Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten gesichert hatte – war gefallen. Für die Demokraten wurden die Karten damit neu gemischt. Denn so sehr die Entscheidung in konservativen Kreisen auch bejubelt wurde, umso stärker sorgte sie für neuen Auftrieb bei den liberalen Kräften.
Mit seinem Abtreibungsverbot hatte der konservative Supreme Court das perfekte Wahlkampfthema für die Demokraten geboren. Und die Indizien häufen sich, dass die daraus im November Kapital schlagen könnten.
USA: Kampf um Abtreibungsrecht auf dem Wahlzettel
Das jüngste Beispiel ist das starke Abschneiden der Demokraten bei der Sondervorwahl in New Yorks 19. Wahldistrikt, einem heiß umkämpften Wechselbezirk am Fuße des Hudson Rivers. Eine Sondervorwahl deswegen, weil der bisherige demokratische Abgeordnete das Amt des Vizegouverneurs übernommen hatte. Und ein Wechseldistrikt, weil dort bei den Präsidentschaftswahlen 2012 die Mehrheit für Barack Obama gestimmt hatte, vier Jahre später dessen Amtsnachfolger Donald Trump gewann – und der Bezirk im Jahr 2020 wiederum an Joe Biden ging.
Im aktuellen Wahlkampf hatte der demokratische Kandidat Pat Ryan das Recht auf Abtreibung in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt. Seinem republikanischen Rivalen Marc Molinaro warf er vor, "extreme" Positionen zu vertreten und Frauenrechte einschränken zu wollen. Am Ende setzte sich Ryan erfolgreich durch – und übertraf damit noch den knappen Sieg von Biden vor zwei Jahren.
Nun wäre eine Sondervorwahl wenig aussagekräftig. Doch seit dem umstrittenen Supreme-Court-Urteil haben die Demokraten vier von fünf solcher spezieller Vorwahlen für sich entschieden. Auch in Alaska, wo derzeit noch die Auszählung läuft, sieht es für die Republikaner nicht gut aus. Um eine Chance zu haben, im November das Repräsentantenhaus zurückzuerobern – geschweige denn, den Senat zu gewinnen – müssen sie besser abschneiden, als bei den Wahlen 2020. Doch der Wind scheint der Partei von Donald Trump gerade aus den Segeln genommen zu werden.
Seine Unterstützung ist keine Siegesgarantie: So haben Donald Trumps Kandidaten abgeschnitten
Midterms 2022: Was für die Demokraten spricht ...
In den letzten Wochen konnte Joe Biden den Wählerinnen und Wählern endlich handfeste politische Erfolge präsentieren. Mit einer Reihe an verabschiedeten Gesetzen – Ausweitung der Krankenversicherung, Maßnahmen gegen die Klimakrise sowie eine Verschärfung des Waffenrechts – ließ der Präsident seinen Versprechungen im Wahlkampf nun Taten folgen. Letzte Woche verkündete er, die Regierung werde in Teilen auf die Rückzahlung von den in den USA massiv hohen Studienkrediten verzichten – ein langjähriges Anliegen seiner Parteibasis.
Die unterzeichneten Gesetze geben auch den demokratischen Kandidaten, die überall im Land um ihre Sitze im Abgeordnetenhaus, im Senat (wo ein Drittel neugewählt wird) sowie um Gouverneursposten kämpfen, neuen Auftrieb. Während die Republikaner ihnen vorwerfen, ein "Kongress, der nichts tut" zu sein, können sie nun echte innenpolitische Erfolge vorweisen. Selbst die aktuell wieder sinkenden Spritpreise kommen Bidens Partei zu Gute. Für viele Amerikanerinnen und Amerikaner waren die teuren Benzinkosten ein lebendiger Beweis für die Inflation im Alltag. Das Lieblings-Wahlkampfthema der GOP erhält nun einen Dämpfer.
Hinzu kommt, dass die FBI-Razzia in Donald Trumps Anwesen Mar-a-Lago sowie die Beschlagnahmung dutzender Geheimdokumente (der stern berichtete), den Ex-Präsidenten neu ins Rampenlicht gerückt haben. Obwohl ihn viele Konservative an der Parteispitze wahrscheinlich lieber im Hintergrund gesehen hätten. Den Demokraten hingegen, die alles daran setzen, um die Republikaner als extremistische Trump-Partei darzustellen, spielten die öffentlich gewordenen Ermittlungen geradezu in die Hände. Zum ersten Mal seit Herbst vergangenen Jahres gibt es laut Umfragen eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die die demokratische gegenüber der republikanischen Kontrolle des Kongresses bevorzugen.
Und doch gibt es bei all den positiven Nachrichten für die Demokraten noch immer die unvermeidliche Mathematik der Zwischenwahlen.
... und was für die Republikaner
Ein ungeschriebenes Gesetz in den USA besagt, dass diejenige Partei, die den Präsidenten im Weißen Haus stellt, bei den Midterms stets um ihre Mehrheiten fürchten muss. Für die Republikaner wirft die unter Donald Trump vorangetriebene Umverteilung von Wahlbezirken – und ihrer Abgeordnetensitze – nun ihre Früchte ab. Hinzu kommt eine Reihe von Rücktritten demokratischer Abgeordneter. Aktuell halten die Demokraten im Abgeordnetenhaus 220 Sitze, die Republikaner 211 – sie bräuchten also eigentlich noch neun. Eigentlich. Doch da vier der neun Sitze keinen demokratischen Amtsinhaber mehr haben, der sie verteidigt, müssen die Konservativen im Endeffekt nur fünf dazu gewinnen.
Zwar ist es noch ein bisschen früh, um von den Umfragen der entscheidenen Rennen konkrete Rückschlüsse auf die Verteilung von Demokraten und Republikanern zu ziehen. Viele Kandidaten sind noch unbekannte Gesichter und der Wahlkampf für die Midterms läuft gerade erst an. "Mehrheiten werden im November gewonnen, nicht im August", bringt es Michael McAdams, Kommunikationsdirektor des "National Republican Congressional Committee" auf den Punkt.
Und doch gibt es einen Umfragewert, auf den sich die Republikaner schon seit Monaten verlassen können: die schwächelnde Beliebtheit des Präsidenten. Auch wenn diese zuletzt leicht angestiegen ist, liegt Joe Biden mit aktuell 42,3 Prozent Zustimmung noch immer weit unter den Werten seiner Amtsvorgänger. Nicht wenige in der GOP setzen darauf, dass der unbeliebte Präsident seiner Partei in den Vorwahlen wie ein Klotz am Bein hängen wird.
Wahlkampf gewinnt an Schärfe
Kein Wunder also, dass Joe Biden selbst auch verbal aufrüstet. Vergangene Woche rief er seine Anhänger in Rockville bei Washington auf, unbedingt zur Wahl zu gehen, um das Land vor dem "halben Faschismus" radikaler Republikaner zu bewahren und "die Demokratie buchstäblich noch einmal zu retten". Die GOP beschrieb Biden als Partei voller "Wut, Gewalt, Hass und Spaltung", seine Demokraten dagegen stünden für die "Zukunft" sowie für "Einigkeit, Hoffnung und Optimismus".
Zudem bekräftigte der Präsident sein Versprechen, im Falle eines Wahlsiegs im Herbst, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche in einem Bundesgesetz zu verankern. Das Thema werde die "mächtige Kraft" insbesondere der Wählerinnen wachrütteln, sagte Biden. Und die Daten untermauern seine Prophezeiung. Eine aktuelle Pew-Research-Umfrage zeigt, dass 56 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler äußern, dass das Abtreibungs-Thema in den Zwischenwahlen für sie "sehr wichtig" sein wird. Im März waren es noch 43 Prozent.
Fakt ist, das Recht auf Abtreibung steht im November mit auf dem Wahlzettel. Ob es den Demokraten am Ende helfen wird, den Kongress zu sichern, muss sich erst noch zeigen.
Quellen: "NY Times", "Washington Post", "CNN", "Pew Research", "Five Thirty Eight", mit AFP-Material
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes wurden die Republikaner fälschlicherweise an einer Stelle als "die Blauen" tituliert, der Farbe der Demokraten. Wir bitten, diesen Fehler zu entschuldigen.