Der Stall steht auch nach sechs Jahren noch leer. Äcker haben sie nicht, keine Apfelbäume, keinen großen Garten, eigentlich hat die kurdische Familie nur ihr Lehmhaus mit den winzigen zwei Zimmern und ein paar Hühnern vor der Tür. "Immerhin ist das mehr, als wir in den vergangenen Jahren hatten", sagt der Bauer Muhittin, der Angst hat, seinen vollen Namen zu nennen.
Eine Million Kurden mussten fliehen
Seit sechs Jahren lebt er mit seiner Familie in seinem Heimatdorf südlich der Kurdenmetropole Diyarbakir im Südosten Anatoliens, keine Autostunde von der syrischen Grenze entfernt. Man muss sagen: wieder. Früher lebten hier über 45 Familien, im Winter 1995 flohen sie zusammen vor der türkischen Armee. "Die Soldaten warfen die Männer des Dorfes in den eiskalten Fluss und drohten uns anderen, uns mitsamt unseren Häusern in Brand zu stecken", sagt Muhittin. Danach stand das Dorf sechs Jahre lang leer. Heute leben hier zehn Familien zwischen den Ruinen der zerstörten Häuser, die einst ein vielleicht nicht blühendes, aber intaktes Dorf waren.
Schätzungsweise eine Million Kurden flohen in den Jahren 1984 bis 1999 aus ihren Dörfern in Ost- und Südostanatolien vor dem Krieg zwischen türkischer Armee und den Kämpfern der Terrororganisation PKK. Die Soldaten räumten komplette Landstriche, weil sie die Bevölkerung verdächtigten, der PKK Unterschlupf zu gewähren; viele andere wurden als vermeintliche "Kollaborateure" von der PKK vertrieben. Wieder andere konnten schlicht nicht mehr in ihren Dörfern überleben, abgeschnitten von der Außenwelt, nicht in der Lage, während der Kämpfe ihre Felder zu bestellen und ihre Tiere weiden zu lassen.
Nun herrscht zumindest offiziell Frieden, seit 2001 ist den meisten Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimatdörfer erlaubt, allerdings sind bisher nur geschätzte zehn Prozent der Dorfbewohner tatsächlich zurückgesiedelt. Die meisten bleiben in den Städten - völlig verarmt, unzufrieden, von extremistischen Gruppen wie der PKK leicht mobilisierbar.
Der Staat tut nichts, um zu helfen
Der türkische Staat tut trotzdem kaum etwas dafür, den Flüchtlingen beim Neuanfang auf dem Land zu helfen. Als Muhittin 2001 als einer der Ersten wieder zurückkehrte, bekam er nicht mehr als ein paar kostenlose Säcke Zement. Mit seinen letzten Ersparnissen mietete er ein Auto, lud die wenigen Habseligkeiten, seine Frau und die sechs Kinder auf und fuhr heim. Im Dorf baute er das Haus der Familie eigenhändig wieder auf, aus dem Staub, der schon vorher ihr Heim gewesen war. Ein paar Monate lebten sie unter einer Plane, doch kurz vor dem Winter wurde das Haus fertig, ein kleiner, brauner Quader aus Lehm, der innen unverputzt ist und kahl, der einzige Wandschmuck ist der Abreißkalender eines Supermarktes.
"Am Anfang gab es kein Wasser und keinen Strom", sagt Muhittins Frau, sie hat mit den Töchtern zusammen das Wasser von der einen Kilometer entfernten Quelle herbeigeschleppt, noch nicht einmal einen Esel hatten sie, der es hätte tragen können. Von der versprochenen Infrastrukturhilfe haben sie bisher wenig gesehen. Zwar wurden die Strommasten wieder erneuert, doch der Strom fällt noch immer oft aus, vor allem bei Schnee. Immerhin, es gibt jetzt wieder eine Schule mit einem Klassenzimmer, über der knallrot und unübersehbar die türkische Flagge im Wind weht.
Entschädigungsgesetz 2004 verabschiedet
Als die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan 2004 ein Entschädigungsgesetz für die materiellen Verluste der Vertriebenen verabschiedete, freute sich Muhittin zunächst. Er engagierte einen Anwalt, der berechnete, dass sie Anspruch auf 50.000 Lira, umgerechnet 28.000 Euro, Entschädigung hätten: für das zerstörte Haus, die verlorenen 40 Schafe, für die Mietkosten in der Stadt und die der Familie entgangenen Einnahmen als Landarbeiter in den vergangenen sechs Jahren. "Aber stattdessen hat uns das Gericht nur 5000 Lira angeboten", sagt der Familienvater. "Das ist keine Entschädigung, sondern eine Demütigung", sagt er, deshalb habe er das Angebot abgelehnt. Das war vor zwei Jahren. Seitdem liegt der Fall beim Gericht. "Wahrscheinlich werden wir verlieren", sagt Muhittin resigniert. "Wir haben doch bisher immer verloren."
Die Kritik an dem Entschädigungsgesetz ist weit verbreitet: Zu viele Flüchtlinge würden von den Entschädigungszahlungen ausgeschlossen, die Summen seien zu gering. Oft würden Felder zu klein geschätzt, die Mietkosten im Fluchtort nicht erstattet, würde verlorenes Vieh nicht anerkannt - obwohl viele Bewohner der betroffenen Bergdörfer von der Viehzucht gelebt haben. All diese Punkte listen die Wissenschaftler des türkischen Forschungsinstitutes TESEV in einer umfangreichen Studie auf, die sie im vergangenen Jahr veröffentlichten. Für einen im Zuge der Vertreibung Gestorbenen erhalten die Familien 9000 Euro, für Verletzungen knapp über 1000 Euro. Eine Entschädigung für erlittene seelische Verletzungen oder eine Entschuldigung von Seiten der Regierung? Keine Spur.
Gesetz zur Verhinderung von Entschädigung
"Dieses Gesetz soll den Menschen nicht helfen, sondern ihnen den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte versperren", bilanziert der Anwalt Dursun Özdogan von der Flüchtlingsorganisation Göc-Der in Diyarbakir. Die Regierung habe es vor allem als Reaktion auf eine Klagewelle der Vertriebenen in Straßburg eingeführt, um teure Entschädigungen zu verhindern. "Das haben Politiker auch geschafft", sagt der Anwalt. "Der Europäische Gerichtshof hat sich vor einem Jahr gegen die Forderungen eines Flüchtlings gewandt, mit der Begründung, die Türkei habe sich mit dem Gesetz von 2004 hinreichend um eine faire Entschädigungslösung bemüht." Dieses Urteil dient nun als Präzedenzfall, seither sind die Entschädigungssummen um die Hälfte gesunken. Auf mehr Geld klagt, anders als Muhittin, fast niemand, ein Prozess kann bis zu zehn Jahre dauern.
So erfüllt das Entschädigungsgesetz oft nicht nur seinen namensgebenden Zweck nicht, es ermöglich darüber hinaus nicht einmal die Rückkehr der Dorfbewohner. Der größte Teil der landlosen und in den vergangenen Jahren komplett verarmten Landbevölkerung vegetiert daher noch immer ohne jede staatliche Unterstützung in den Slums der größeren Ortschaften und Städte vor sich hin. Wer sich nicht sicher sein kann, ob er am nächsten Tag zu essen hat, der hat auch kein Geld für die lange Fahrt ins Dorf, erst recht keines, um dort ein Haus zu bauen.
"Wir gehören nirgendwo mehr hin"
Muhittin hatte gerade genug Geld, um ins Dorf zurückzukehren; um hier zu bleiben, wird es wohl aber nicht reichen. "Wir gehören nirgendwo mehr hin", flucht er. Es ist ein Teufelskreis: Dort, wo es Arbeit gibt, in der Stadt, können sie sich die Miete nicht leisten, auch wenn das nur 50 Euro sind. Hier, wo sie es können, liegt die Arbeitslosigkeit bei 70 Prozent, und tagsüber drängen sich tausende Männer in den Straßen Diyarbakirs, die sich als Bauarbeiter anbieten oder als Lastenträger. Deswegen schickte die Familie den damals 15-jährigen Sohn nach Istanbul, wo er nun noch immer kellnert und jeden Monat 100 Euro nach Hause schickt. Seit sechs Jahren haben sie ihn nicht mehr gesehen.
Andererseits: Auf dem Dorf haben sie eigentlich auch nichts zu tun. Muhittin hat nie Land besessen, das er bewirtschaften könnte, er war wie so viele hier ein landloser Arbeiter, der auf den Höfen der anderen Bauern mit anpackte. Mehr als Auberginen und Tomaten im Garten zu züchten, hat er jedoch im Moment nicht zu tun, niemand stellt ihn ein. Und deswegen überlegt Muhittin nun, vor dem Wintereinbruch nach Diyarbakir zurückzukehren, wo es wenigstens Arbeit gibt, so schlecht bezahlt sie auch ist. In den letzten Wochen und Monaten haben sich die Häuser des Dorfes schon wieder geleert, sind die Rauchsäulen wenig geworden. Bereits zehn Familien haben sich nun wieder einmal aufgemacht - zurück in die Stadt. Und Muhittin sagt, er werde der nächste sein.