Die Schlammschlacht zwischen der regulären russischen Armee und der sogenannten Söldner-Truppe Wagner geht in die nächste Runde. Nachdem die Einheit von Jewgeni Prigoschin einen Oberstleutnant der russischen Streitkräfte gefangen genommen und zu Schuldbekenntnissen gezwungen hatte, erhebt der Offizier nun seinerseits schwere Anschuldigungen gegen die Söldner und ihren Anführer Prigoschin.
In einer Videobotschaft erklärte Roman Wenewitin, Wagner-Söldner hätten ihn völlig grundlos "gefangen genommen, im Keller eingesperrt und misshandelt". Nach eigenen Angaben sei er der Kommandeur der 72. Brigade der russischen Streitkräfte gewesen, die für eine gewisse Zeit Positionen in Richtung Bachmut eingenommen hatte. Vom ersten Tag an hätte es Spannungen zwischen seinen Soldaten und den Wagner-Söldnern gegeben, so Wenewitin.
Die Männer unter dem Befehl Prigoschins hätten sich dreist und provozierend aufgeführt. Es habe ständig Morddrohungen gegeben. Doch mit Drohungen hätten sie sich nicht begnügt.
Direkte Vorwürfe an Jewgeni Prigoschin
"Die Kämpfer der Privatarmee Wagner haben zwei Panzer des Typs T80, vier Feuergeschütze, einen Kamaz (Lastwagen) und einen BMP-Schützenpanzer gestohlen", zählt Wenewitin auf. Bis heute seien die Waffen nicht zurück an das russische Verteidigungsministerium übergeben worden. "Die Privatarmee Wagner glaubt, es seien Kriegstrophäen."
Die Erfolge seiner Truppe, von denen Prigoschin ständig kündet, seien schlichtweg erfunden, sagt Wenewitin. In seiner Videobotschaft widmet er sich direkt an den Söldner-Chef: "Sie diskreditieren die russischen Streitkräfte. Sie versuchen, die Privatarmee Wagner als einzige effektive Organisation und militärische Einheit in diesem Konflikt darzustellen. Aber ich habe eine Frage: Wäre es Ihnen gelungen Soledar oder Bachmut einzunehmen, wenn auf der breiten Front nicht Vertragssoldaten, Freiwillige und Achmat-Einheiten (...) kämpfen würden? Hätten Sie dann eine Gelegenheit, politische PR zu machen?", fragt der ehemalige Kommandeur und impliziert, dass dies nicht der Fall gewesen wäre.
Wenn die Wagner-Söldner mit der russischen Armee kooperieren würden, dann gebe es in diesem Krieg viel weniger Opfer – und dafür "mehr Territorien", glaubt Wenewitin. "Aber die Söldner-Truppe hält es nicht für nötig, uns über ihre Manöver oder das Aufgeben bestimmter Gebiete zu informieren."
Soldaten angeblich gefoltert und vergewaltigt
Die Anschuldigungen des Oberleutnants gehen aber noch weiter: "Es gab Entführungsfälle unserer Kämpfer. Sie wurden gefoltert und in ihrer Ehre erniedrigt", behauptet Wenewitin und meint mit dieser Ausdrucksweise Vergewaltigung. Er erzählt von einem konkreten Fall aus seinem Bataillon. Der Soldat sei "hungernd und nackt auf kaltem Boden in einem Keller gehalten worden. Sie haben ihm Säure und andere chemische Mittel in die Augen gesprüht, von denen er zeitweise das Augenlicht verlor. Sie haben ihm mit Benzin übergossen und ein Feuerzeug in seiner Nähe gehalten."
Ein Soldat aus einer anderen Einheit sei zusammengeschlagen und vergewaltigt worden. "Er hat angesichts seiner Ausweglosigkeit Suizid begangen."
Chef der Wagner-Söldner gibt selbst Verbrechen zu
Wenewitin war selbst von der Wagner-Truppe gefangen genommen und in einem Video vorgeführt worden. Die Aufnahme zeigt ein vermeintliches Geständnis des ehemaligen Kommandeurs der russischen Armee. Er hätte seinen Untergebenen befohlen, ein Auto der Wagner-Söldner zu beschießen. Den Befehl hätte er "aus persönlicher Abneigung" erteilt, sagt er in dem entsprechenden Video, das von den Prigoschin-Männern ins Netz gestellt wurde.
Der Wagner-Chef selbst behauptete, Wenewitins Soldaten hätten die Straße, auf der sich seine Männer bewegt hätten, vermint. Woraufhin die Söldner die Einheit des russischen Militärs entwaffnet hätten. Der Vorfall soll sich im Mai zugetragen haben.
Chaos und Gesetzlosigkeit
Im Versuch, die russische Armee anzuschwärzen, macht Prigoschin kein Geheimnis daraus, dass er Einheiten des offiziellen Militärs entwaffnen und ihren Kommandeur gefangen nehmen ließ. Beide Vorgehen stellen schwere Verstöße dar und müssten in der Theorie harte Strafen nach sich ziehen. Doch wie so vieles in Russland besteht auch die Gesetzgebung nur in der Theorie.
In der Praxis wird Prigoschin weiter freie Hand gelassen. Ermittlungen gibt es keine – weder bezüglich des Vorwurfs der Folter und Vergewaltigung russischer Soldaten noch im Fall der selbst enthüllten Gefangennahme von Wenewitin. Und so mehren sich Spekulationen: Wladimir Putin habe die Kontrolle über seinen Söldnerführer, der sich hinter seinen Männern an der Frontlinie versteckt, längst verloren, sagen die einen. Der Kreml-Chef warte nur auf eine passende Gelegenheit, um Prigoschin loszuwerden, sagen die anderen.
So oder so: Die Schlammschlacht zwischen Prigoschin und der russischen Militärführung zeigt vor allem das Chaos und Gesetzlosigkeit, in denen Russland immer weiter versinkt.