Dass Wladimir Putin zu Taten fähig ist, die viele für undenkbar halten, das hat der Kremlchef in 22 Jahren Herrschaft immer wieder eindrucksvoll bewiesen. Sein neuestes Kunststück ist dennoch beeindruckend: Er hat sich – natürlich durch die Blume – auf eine Stufe mit dem berühmten Zar Peter dem Großen gestellt.
"Offenbar ist es auch unser Los: Zurückzuholen und zu stärken", schlussfolgerte Putin laut der Nachrichtenagentur Interfax am Donnerstag unmittelbar nach dem 350. Geburtstag des russischen Kaisers. Wie schon Zar Peter im frühen 18. Jahrhundert die Gebiete um die heutige Millionenstadt St. Petersburg nicht erobert, sondern von den Schweden zurückgewonnen habe, sei auch die Invasion der Ukraine lediglich eine Korrektur auf der Landkarte.
Nun fehlt es Putin bekanntlich nicht an Ehrgeiz. Seine Selbst-Nobilitierung ist aber doch eine neue Form der Selbstverliebtheit- und -verklärung. Sicher, man könnte ob dieser Anmaßung schmunzeln – wäre sie nicht Ausdruck eines gemeingefährlichen Größenwahns, der Tausenden Menschen Leben und Freiheit kostet.
Zar Peter: großer Mann, größere Ambitionen
Zar Peter Alexejewitsch (*1672), genannt "der Große", gilt als einer der bedeutendsten Figuren der russischen Geschichte. Dem mehr als zwei Meter große Hünen war die Rückständigkeit seines Reiches, dessen Bevölkerung zum Großteil aus armen Bauern bestand, ein Dorn im Auge. Angesichts des massiven Aufholbedarfs in Sachen Technologie – insbesondere beim Schiffsbau – arbeitete Zar Peter mehrere Monate lang als Zimmermann in einer Amsterdamer Werft und lernte von westlichen Ingenieuren und Gelehrten. Er muss ein fleißiger Schüler gewesen sein.
Denn während seiner 42-jährigen Regentschaft modernisierte er nicht nur die Verwaltung und Wirtschaft, sondern führte auch Krieg im Süden und Norden. Als der Peter nach 21 Jahren siegreich aus dem "Nordischen Krieg" hervorging, hatte das Russische Zarenreich Schweden als Militärmacht im Ostseeraum abgelöst und endgültig seine Führungsansprüche in Europa gefestigt. Weil der Titel Zar dem Ganzen nicht gerecht wurde, nannte sich Peter fortan Imperator – nach dem Vorbild Römischer Kaiser. Für sein Herzensprojekt, den Bau einer russischen Metropole an der Ostsee, sollen Zehntausende Menschen ihr Leben gelassen haben. St. Petersburg, heute viertgrößte Stadt Europas, ist nicht nach dem Kaiser, sondern nach dessen Schutzheiligen Petrus benannt.
Zar Peter: ein russischer Held also? Kurfürstin Sophie von Hannover beschrieb ihn laut Deutschlandfunk wie folgt: "Dieser Fürst hat ein gutes Herz und recht noble Gefühle, er ist einerseits sehr gütig und andererseits sehr böse, so wie es in seinem Land bestellt ist." Zumindest der zweite Teil dieser Beschreibung leitet über zu seinem vermeintlichen Bruder im Geiste.
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Putin sieht sich als "Zar für alle Russen"
Putin sehe sich selbst als "Erbe der Zaren", zitierte der "Businessinsider" Mitte Mai Fiona Hill, ehemalige Beraterin von US-Präsident Donald Trump. Der Kremlchef fühle sich den absoluten Herrschern der vermeintlich glorreichen Vergangenheit näher als den Führern der UdSSR. Ganz nach zaristischem Vorbild habe Putin das System von sich abhängig gemacht und sei zu einem Autokraten avanciert, der allein durch die Verfassung gestützt und durch den Anspruch des Volkes legitimiert sei. Tatsächlich ist kaum eine Weltmacht so sehr mit ihrem Regierungschef assoziiert wie Russland. Putin ist Russland und Russland ist Putin – das ist das Bild, an dem der Kremlchef seit 22 Jahren unaufhörlich gewerkelt, für dessen Perfektion er Gesetze umgangen und Kritiker zum Schweigen gebracht hat.
Ganz wie sein großes Vorbild stört sich Putin massiv an der Bedeutungslosigkeit seines Reichs. Russland mag die Welt militärisch in Atem halten. Ökonomisch ist das größte Land der Welt im besten Fall Mittelklasse. Selbst Italien hat ein größeres Bruttoinlandsprodukt – und das vor der geopolitischen Zwangsquarantäne. Putin will ein Erbe hinterlassen, egal zu welchem Preis.
Als Russland 1547 zum Zarenreich wurde, so die US-Zeitschrift "Foreign Policy", lautete der offizielle Kurztitel des Herrschers "Zar für alle Russen". Alles, was sich diesem "allrussischen" Gedanken widersetzt, gehört in dieser Vorstellung aussortiert. Wie seine historischen Vorreiter sieht Putin seine Aufgabe als Herrscher darin, die Einheit des russischen Volks zu garantieren. Doch nur, weil sich eine Nation als eigenständig ansieht, ist sie das noch längst nicht in den Augen des machthungrigen Wunsch-Imperators.
Und so spannt sich der Bogen zu Peter dem Großen. Nach dessen erfolgreichen (wenn auch blutigen) Feldzügen – pardon, militärischen Spezialoperationen – an der Ostsee, sollen russische Würdenträger ihren Zaren demütig gebeten haben, einen besonders famosen Titel zu führen, wie der Deutschlandfunk berichtet. Vielleicht schreibt sich das ein gewisser Autokrat allabendlich sehnsüchtig in sein Tagebuch. Das klänge dann in etwa so: "Vater des Vaterlandes, Wladimir der Große, Herrscher über ganz Russland". Man wird jawohl noch (alp-) träumen dürfen.
Quellen: "Deutschlandfunk"; "Foreign Policy"; dpa